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Aus Anlass eines Jubiläums – „50 Jahre 68er Bewegung“ (Denkanlass #1) – wird gegenwärtig darüber diskutiert, „was von der 68er Bewegung übrig geblieben ist“, „was wir Rudi Dutschke & Co zu verdanken haben“, „was die andauernde Aktualität der Studentenbewegung ausmacht“ oder gar: „was wir aus den Studentenprotesten gelernt haben oder noch lernen können“…
Bei der Lektüre von Veröffentlichungen zu diesem Thema wundere ich mich darüber, dass Einige glauben, als Korrektiv der Irrtümer der 68er ausgerechnet Hannah Arendt ins Feld führen zu können – jene Hannah Arendt, die im ersten, offenbar immer wieder überlesenen Kapitel ihres leicht überschätzten Traktats „Macht und Gewalt“ den Studentenprotesten ihre klare Absage erteilt und allen Ernstes „die theoretische Sterilität dieser Bewegung“ beklagt hat.
Theoretisch steril – die 68er? Jene Bewegung, die sich wie keine andere zuvor sowohl auf klassische als auch auf zeitgenössische Autoren berief: auf Hegel, Marx, Feuerbach und Nietzsche, auf Bloch, Sartre, Horkheimer und Marcuse? Unter was für einer Optik muss – oder kann – ein solcher Eindruck entstehen? Unter einer konsequent anti-dialektischen? Einer von Heidegger infizierten und von Jaspers korrigierten? Theoretisch steril – die 68er?
Ja, ganz genau: theoretisch steril, so Arendt 1970 in einem Interview mit Adelbert Reif: „in Deutschland, wo man so gerne theoretisch daherredet, mit veralteten, durchweg aus dem 19. Jahrhundert stammenden Kategorien hausieren geht, bzw. sie sich an den Kopf wirft, von denen keine modernen Verhältnissen entspricht. Das hat mit Nachdenken nichts zu tun.“ (Macht und Gewalt, München / Zürich 2006, S. 111f)
Was für eine Sprache spricht Hannah Arendt hier – und immer wieder auch in anderen Texten? Z.B. im schon angeführten ersten Kapitel ihres berühmten Essays „Macht und Gewalt“. Hat sich das jemals ein Philosophiewissenschaftler näher angeschaut? Die verräterische und ideologische Sprache, die Arendt dort spricht, wie auch in dem soeben zitierten Interview?
Man beachte z.B. im Interview die Tendenz zur groben Verallgemeinerung und Unterstellung: „in Deutschland, wo man so gerne theoretisch daherredet“, oder auch zur kategorischen Verurteilung: „von denen keine modernen Verhältnissen entspricht“. Als ob das 19. Jahrhundert, vor allem mit seinen soeben genannten Autoren: Hegel, Marx, Feuerbach und Nietzsche, einfach von der theoretischen Landkarte gewischt werden könnte …
Ich hoffe, ich werde einmal Gelegenheit haben, auf Arendts alles in allem vorurteilsbehaftetes und ignorantes Verhältnis zur 68er Bewegung ausführlicher einzugehen. Bis dahin muss ich auf einen einzigen Text verweisen, in dem ich dieses Verhältnis zumindest ansatzweise gestreift habe: Macht und / oder Gewalt, in: Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart, hg. v. Ralf Krause und Marc Rölli, Bielefeld 2008, S. 63ff.
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Statt auf Arendt, die heute so gut wie jeder, der sozialtheoretisch en vogue sein will, zitiert, werde ich mich auf einen Autor beziehen, den heute nur noch wenige kennen, obwohl sein Name vielfältige Assoziationen wecken könnte: Carl Friedrich von Weizsäcker. Ich hatte ihn selber schon fast aus den Augen verloren, als mir vor kurzem auf einer Reise, in einem Antiquariat in Marburg, wieder sein Buch „Der Garten des Menschlichen“ (München und Wien 1977) in die Hände fiel.
In diesem Buch findet sich ein kurzer Text mit dem Titel Das moralische Problem der Linken und das moralische Problem der Moral. In ihm zieht Weizsäcker sein persönliches, kritisches, aber alles in allem sympathetisches Fazit, das auf den Punkt hinausläuft, auf den ich mit meinen Beiträgen zum Thema Idee und Ideal ebenfalls aufmerksam mache: auf den Widerspruch von Wertorientierung und Wertrealisierung.
Weizsäcker kennzeichnet das moralische Problem der Linken seiner Zeit, um 1975, folgendermaßen: „Die Linke ist bisher gegen ein moralisch durchaus anfechtbares und von ihr mit Recht kritisiertes System deshalb unterlegen, weil ihre eigene faktische Moral einen moralischen Schrecken verbreitet, der, auch wenn er sich oft ungewandt ausspricht, im Kern voll begründet ist. Gerade die moralisch hoch motivierte Linke scheitert an ihren systematischen Verstößen gegen die Moral.“ (S. 118)
Sie will, wie Weizsäcker, betont, „Gerechtigkeit“, aber „stößt“ dabei „nun auf das uralte Problem von Zweck und Mitteln. (…) Sie [die Linken] verdrängen die Wahrheit, daß sie die Moral, die sie selbst etablieren wollen, auf dem Wege zu ihrer Etablierung durch die Tat verraten, und daß jeder nur halbwegs Sensible diesen Verrat merkt. So schaffen sie ihre eigene moralische Diskreditierung.“ (S. 120).
Wertorientierung und Wertrealisierung geraten in Widerspruch: Werte wie Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit werden durch die Mittel, durch die man sie zu realisieren versucht, etwa durch Zwang und Gewalt, diskreditiert. Und man nimmt diese Diskreditierung in Kauf, weil man, so Weizsäcker, weiß, „daß das herrschende System mit anderen (…) Mitteln nicht gestürzt werden kann“ (ebd.).
In der Tat ist das ein wirklich relevanter Kritikpunkt, den man den so genannten „68ern“ vorhalten kann. Denn vor allem darin waren sie, wie wir heute wissen, systemkonform, waren sie Kinder der Moderne. Sie ließen es zu, dass sie mit denselben Mitteln agierten, die sie – zu Recht – den institutionellen Mächten vorwarfen, und sprachen sich daher am Ende – folgerichtig, aber falsch – für den „Marsch durch die Institutionen“ aus.
Das Fatale, Verzweifelte aller linken Bewegungen, einschließlich der der „Grünen“, besteht daher genau darin, dass sie sich der Idee der Moderne – das heißt in diesem Kontext: dem Widerspruch – nicht entziehen konnten: dass sie ihre Ideale verrieten. Nicht weil sie ihren Ideen nicht treu blieben, sondern weil sie diese ihre Treue missverstanden: als Treue, der man mit allen Mitteln treu zu bleiben habe, als verdoppelte Treue, als Treue aus Prinzip. Kurz: als Moralismus.
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Aus Anlass eines weiteren Jubiläums – „200 Jahre Marx“ (Denkanlass #2) – wird gegenwärtig in den Medien (in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, ja sogar im TV) ebenso darüber diskutiert, „was von Marx übrig geblieben ist“, „was wir Marx & Co zu verdanken haben“, „was die andauernde Aktualität des Marxismus ausmacht“ oder gar: „was wir von Marx gelernt haben oder noch lernen können“…
In diesem Zusammenhang erschien vor kurzem in der Wochenzeitung „der Freitag“ ein Interview mit der Berliner Soziologin Hanna Meißner unter dem Titel „Marx eröffnet eine Perspektive auf Veränderbarkeit“ (Nr. 17 vom 26.4.2008, S. 20). Ich hoffe, das Buch von Meißner „Jenseits des autonomen Subjekts“ in einem kommenden Blogbeitrag einmal gesondert diskutieren zu können, beschränke mich aber hier der Kürze halber auf das Interview.
In ihm sagt Meißner: „Marx zeigt uns, dass das, was uns im Alltag als unabänderliche Bedingungen erscheint – so sind die Menschen, so handeln sie, so funktioniert die Wirtschaft –, aus menschlicher Praxis entstanden ist. Dass wir uns also unseren selbst geschaffenen Bedingungen unterwerfen und damit ohnmächtig machen. Das eröffnet grundsätzlich eine Perspektive auf Veränderlichkeit.“ (Sp.1)
Es stellt sich aber die Frage, wie diese Perspektive aussieht. Wenn wir uns nämlich den von uns selbst geschaffenen Bedingungen derart unterwerfen, dass wir uns damit, wie Meißner sagt, ohnmächtig machen, bleibt offen, woher wir die Macht nehmen, uns aus unserer Ohnmacht zu befreien. Wird der Gedanke der Autonomie also so gefasst – ohne Reflexion der Asymmetrie von negativer und positiver Freiheit – gibt es aus der Ohnmacht kein Entkommen, noch nicht einmal gedanklich.
Die Lösung will Meißner daher in einem „Jenseits des autonomen Subjekts“ suchen, aber es bleibt bei ihr offen, ob dieses Jenseits schon irgendwie existiert, real ist oder noch aussteht, also idealen Charakter hat: Gesellschaftlich steht es, als Aufhebung von Ohnmacht, noch aus, aber individuell ist es, wie Meißner einige Zeilen weiter (in Sp.1) deutlich macht: als Aufhebung des Scheins von Vereinzelung, bereits Realität.
So gibt es also in diesem Konzept – sehr hellsichtig – zwei Ideen von Autonomie, die beide in einem Widerspruch kulminieren: im Widerspruch der implizit behaupteten Macht und explizit behaupteten Ohnmacht von Autonomie und im Widerspruch ihrer explizit behaupteten Realität und implizit behaupteten Idealität. Und es gibt keinen Weg, über diese Widersprüche hinauszugelangen, weil sie das gesamte (Denk-) System selbst tragen: Meißners und das, auf das sie sich bezieht.
Anders gesagt, Idee und Ideal werden, wieder einmal (denn in einem Denk-System ist das notwendig), nicht streng genug voneinander getrennt. Auf der einen Seite muss es irgendeinen ideellen Anhaltspunkt für das von Meißner behauptete „Jenseits“ geben: die Menschen sind alles andere als autonom, sie sind Teil der Gesellschaft. Aber auf der anderen Seite macht gerade dies ihre Ohnmacht aus, sie kommen über das, von dem sie Teil sind, über die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, nicht hinaus.
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Von einem derart widersprüchlich konstruierten (Denk-) System aus gibt es also gerade keine Perspektive auf Veränderbarkeit; sie wird allenfalls beschworen. Und deshalb erscheint es mir lehrreich, noch einmal einen Blick zurück auf den Text von Weizsäcker zu richten und zu fragen, ob nicht ein anderer Weg der Wertrealisierung denkbar wäre: ein Weg, der sich nicht an einer Kompetenz wie Freiheit oder an deren Struktur, an Autonomie, sondern an einer Haltung, vielleicht auch einem Affekt festmachen lässt.
Der Streit betrifft also nicht die Wertorientierung, denn über diese herrscht, auch unter politischen Gegnern, weitgehend Einigkeit – jenseits der Autonomie. Er betrifft die Wertrealisierung – diesseits von Autonomie. Oder anders gesagt: Der Weg (aus der Immanenz heraus) ist das Ziel, und zwar in derart radikaler, gravierender Weise, dass die Wertorientierung mit der Wertrealisierung steht und fällt, weil anders ein Handeln, das uns aus der Moderne herausführen könnte, nicht möglich ist.
Weizsäcker schreibt: „Der eigentliche, fruchtbare Weg endet nicht in dieser Verzweiflung“ – er meint damit die Verzweiflung der Linken, die auch aus den Widersprüchen der Textur von Meißner immer wieder hervorscheint: Es gibt keinen rational konstruierbaren Weg aus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, keinen Weg, den uns die Wissenschaft weisen könnte – insbesondere nicht die Wissenschaft, denn diese ist eine gesellschaftliche Institution, in der die Ohnmacht, von der Meißner spricht, ja gerade um sich greift.
„Der eigentliche, fruchtbare Weg endet nicht in dieser Verzweiflung, sondern beginnt, wo wir ihr ins Auge zu schauen wagen. Man kann das moralische Problem der Moral auf eine Formel bringen, wegen deren Simplizität man sich als Intellektueller normalerweise schämen würde: letzter Grund der Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens ist die Liebe und nicht die Moral. Die Moral ist ein vorletzter Grund.“ (S. 121)
Alles, worauf es ankommt, ist hier angesprochen: die Simplizität, die sich gegen den Komplexitätswahn auflehnt; die Scham des Intellektuellen, die seiner Gleichgültigkeit entgegensteht; der „letzte Grund“, der dem „vorletzten“ sein Recht lässt. Aber warum „schämen“? Weil wir in einer Zeit leben, in der die Missachtung intellektuellen Protests – eines Protestes für die Vernunft – in einem eigentümlichen Widerspruch steht zur völligen Überschätzung intellektueller Leistungen – einer Überschätzung gegen die Vernunft? Weil wir die Vernunft des Herzens, die der Verstand nicht kennt, aus unserem Denken verdrängt haben?
Möglicherweise zitiert hier Weizsäcker Hegel, der in seiner „Phänomenologie des Geistes“ von der „Macht“ gesprochen hatte, die „dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt“. Die ihm aber, wie Kierkegaard wusste, nicht noch ein weiteres Negatives entgegenhalten kann, weil das nur noch tiefer in die Negativität hineinführen würde. Ethisch gesprochen: Man kann dem Nicht-Sein der Werte nicht durch ein weiteres Nicht-Sein zum Sein verhelfen, d.h. man kann sie nicht mit Mitteln realisieren, die ihnen diametral entgegenstehen.
Dann aber wären die wahren Helden der Geschichte nicht Maximilien de Robespierre und Georges Danton, nicht Wladimir Iljitsch Lenin und Leo Trotzki, nicht Che Guevara und Fidel Castro, nicht Mao Zedong und Ho Chi Minh, es wären Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela. Neben Abertausenden von Namenlosen, deren Gedächtnis unsere Historie verpflichtet sein sollte, wären sie diejenigen, die sich nicht haben beirren lassen, ihrem Ideal die Treue zu halten: der Einheit von Wertorientierung und Wertrealisierung.