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Negative Freiheit – Er hat sicherlich nicht alle Möglichkeiten genutzt, die ihm das Leben geboten hat. Hätte er es getan, hätte er nicht glücklich werden können. Glück heißt: sich nicht irre machen zu lassen von all den Möglichkeiten, sie ungenutzt zu lassen.
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Für eine andere Pädagogik – Er war Autodidakt, er ist Autodidakt, und er wird Autodidakt bleiben. Es ist eine Schwäche des menschlichen Geistes, eine den Menschen anerzogene Schwäche, nicht Autodidakt sein oder bleiben zu können. Die zeitgenössische Pädagogik ist Ausdruck dieser Schwäche.
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Geistiges Leben – Im Lesen verdichtet sich sein Leben: Dank; Tilgung von Schuld, Erfüllung von Zeit, Stillung von Begehren; Suche. Wonach? Nach Sinn. Um ihn herum verendet das Leben, in ihm wird es lebendig.
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Geschichte, mal anders – Er liest Descartes, Pascal, Montaigne, und erkennt: Die deutschen Idealisten waren nicht derart ingeniös, wie er mal dachte. Der Rückschritt ist hier ein wirklicher Fortschritt, aber der angebliche Fortschritt kein Rückschritt.
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Realer oder symbolischer Tod? – Sein Sterben wird eines Tages wie ein Wolkenbruch auf ihn zukommen und sein Tod wie ein Blitz sein, der ihn trifft. Vielleicht ist der Wolkenbruch schon im Anzug, wer weiß. Der Tod ist nichts Natürliches, er ist – aber ist das denkbar? – der Bruch der Natur mit sich selbst. Also eine Form der Kultur?
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Von letzten Dingen – Wenn man ihn eines Tages fragen wird – aber niemand wird es tun –, warum er sich mit seinem letzten Buch so viel Zeit gelassen hat, so viel, dass es niemals fertig gestellt werden konnte, so wird er antworten: Er wollte einmal wirklich (oder wirklich einmal?) etwas fertig stellen, das perfekt recherchiert und gänzlich durchdacht wäre, etwas, zu dem er endgültig stehen könnte. Er weiß, das ist eine Utopie. Aber es lohnt sich, zu ihr zu stehen. Sie gibt seinem Leben einen in ihm nicht vorhandenen Sinn.
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Grenzen des Tuns – Er möchte nicht tun, was er nicht kann. Aber er kann auch nicht verhindern, was er nicht möchte.
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Du musst nur die Richtung wechseln – Die Leserichtung in Ist-Sätzen ist das Entscheidende: Ist der Fortschritt ein Rückschritt? Oder der Rückschritt ein Fortschritt? Liest er den Satz von vorne, ist das ein Fortschritt, liest er ihn von hinten, ist das ein Rückschritt.
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Bedrohliches Wissen – Er muss nicht wissen, was es heißt, frei zu sein. Wenn er es weiß, ist er in der Gefahr, es nicht mehr zu sein.
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Zu spät – Wie erfährt er Kontingenz? Er kann sie nicht in actu erfahren, sondern immer nur retroaktiv: Ab eines gewissen Alters wird ihm bewusst, dass in seinem Leben, ohne dass er es wollte, Vieles, zu Vieles misslungen ist. In dem Moment, in dem er es begreift – vorher begreift es ja keiner –, wird ihm klar: Es ist zu spät! Das ist die Erfahrung der Kontingenz.