Musivische Texte – Splitter #4

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Negative Freiheit – Er hat sicherlich nicht alle Möglichkeiten genutzt, die ihm das Leben ge­bo­ten hat. Hätte er es getan, hätte er nicht glücklich werden können. Glück heißt: sich nicht irre machen zu lassen von all den Möglichkeiten, sie ungenutzt zu lassen.

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Für eine andere Pädagogik – Er war Autodidakt, er ist Autodidakt, und er wird Au­to­di­dakt bleiben. Es ist eine Schwäche des menschlichen Geistes, eine den Menschen an­er­zo­ge­ne Schwäche, nicht Auto­didakt sein oder bleiben zu können. Die zeitgenössische Pä­da­go­gik ist Ausdruck dieser Schwäche.

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Geistiges Leben – Im Lesen verdichtet sich sein Le­ben: Dank; Tilgung von Schuld, Erfül­lung von Zeit, Stillung von Be­gehren; Suche. Wonach? Nach Sinn. Um ihn herum verendet das Leben, in ihm wird es lebendig.

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Geschichte, mal anders – Er liest Descartes, Pascal, Montaigne, und erkennt: Die deut­schen Idealisten waren nicht derart ingeniös, wie er mal dachte. Der Rückschritt ist hier ein wirklicher Fortschritt, aber der angeb­liche Fortschritt kein Rückschritt.

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Realer oder symbolischer Tod? – Sein Sterben wird eines Tages wie ein Wolkenbruch auf ihn zukom­men und sein Tod wie ein Blitz sein, der ihn trifft. Vielleicht ist der Wol­ken­bruch schon im Anzug, wer weiß. Der Tod ist nichts Natürliches, er ist – aber ist das denk­bar? – der Bruch der Natur mit sich selbst. Also eine Form der Kul­tur?

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Von letzten Dingen – Wenn man ihn eines Tages fragen wird – aber niemand wird es tun –, warum er sich mit seinem letzten Buch so viel Zeit ge­las­sen hat, so viel, dass es niemals fertig gestellt werden konnte, so wird er antworten: Er wollte einmal wirklich (oder wirk­lich einmal?) etwas fertig stellen, das per­fekt re­cherchiert und gänzlich durchdacht wäre, etwas, zu dem er endgültig stehen könn­te. Er weiß, das ist eine Uto­pie. Aber es lohnt sich, zu ihr zu stehen. Sie gibt seinem Leben ei­nen in ihm nicht vor­han­de­nen Sinn.

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Grenzen des Tuns – Er möchte nicht tun, was er nicht kann. Aber er kann auch nicht ver­hin­­dern, was er nicht möchte.

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Du musst nur die Richtung wechseln – Die Le­se­rich­tung in Ist-Sätzen ist das Ent­schei­den­de: Ist der Fortschritt ein Rückschritt? Oder der Rückschritt ein Fortschritt? Liest er den Satz von vorne, ist das ein Fortschritt, liest er ihn von hinten, ist das ein Rückschritt.

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Bedrohliches Wissen – Er muss nicht wissen, was es heißt, frei zu sein. Wenn er es weiß, ist er in der Gefahr, es nicht mehr zu sein.

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Zu spät – Wie erfährt er Kontingenz? Er kann sie nicht in actu erfahren, sondern immer nur retro­aktiv: Ab eines gewissen Alters wird ihm bewusst, dass in seinem Leben, ohne dass er es wollte, Vie­les, zu Vieles misslungen ist. In dem Moment, in dem er es begreift – vorher begreift es ja keiner –, wird ihm klar: Es ist zu spät! Das ist die Erfahrung der Kon­tin­genz.

Über Christian Kupke

Philosoph, Autor + Dozent
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