Musivische Texte – Absätze #25

Intensive Zeit (so intensiv wie möglich leben). Ein Freund erzählte mir nach seiner Rückkehr von einer Rei­­se über seinen künstlerischen Auf­enthalt im sizilianischen Sant’ An­ge­lo di Brolo, wo er eine seiner  Ver­sionen von ‚Joachims Traum‘ vor­stell­te27: „Selten habe ich eine so intensive Zeit erlebt wie dort. Wenn ich mich heute daran erinnere, so ist es, als hätte die Zeit einen Riss bekom­men, als wäre sie – wenn auch nur für kurze Zeit – un­ter­bro­chen oder angehalten worden.“ Demnach ist es die Zeit selbst, die Zeit an sich, die extensive Zeit, die einen Riss be­kommt, aber nicht als Zeit, so dass das Zeit­lose an ihre Stel­le träte, sondern in der Zeit: „für kurze Zeit“. Das ist es, was die Intensi­tät, wi­der­stän­dig gegen die Extension, das reine Leben und Verleben der Zeit aus­macht. Denn die in­ten­sive Zeit vergeht oder er­scheint uns im Rück­blick nicht einfach wie jede ande­re: als die un­seres alltäg­li­chen Dahinlebens, Dahin­ar­bei­tens oder Da­hin­ur­lau­bens. Vielmehr ist sie nie „dahin“, sie ist im­mer da, vielleicht sogar „immerdar“, wie die Alten sagen wür­den, und verändert das Selbst / uns selbst im quali­ta­tiven Sinne: Das Selbst wird ein anderes und ein Ande­res wird es selbst.

27 Vgl. Detlef Günther, Human Image, Berlin 2023, S. 10-35.
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Musivische Texte – Absätze #24

Ein anderes Sein. Metaphysisch relevant wird die Überzeugung Camus‘, es komme da­rauf an, nicht so gut wie mög­lich, sondern so viel wie möglich zu leben, allererst für das allgemeine und das univer­sa­le Leben, für das der Menschheit und das aller Lebewesen auf der Erde. Denn wenn es nicht mehr mög­lich ist, unser minimales, individuell beschränktes Leben zu transzendieren und ihm da­durch über den Tod hinaus, im Nachleben, einen, wenn auch noch so fragilen Sinn zu geben, ist alles verlo­ren. Dann bricht sich in der Ge­sell­schaft, wie es heute spürbarer wird als je zuvor, narzißtische Idi­o­tie und allge­mei­ne Gleich­gül­tig­keit Bahn25. Bei Proust heißt es einmal im Zusammenhang mit dem Le­bensziel eines seiner Pro­ta­go­ni­sten, dass sich unsere Wünsche, unser(e) Begehren (désir) erst dann erfüllen, „wenn wir auf­gehört haben zu begehren, und manchmal auch, zu leben“. Eben das ist der Sinngehalt aller Transtopie: sich nicht darauf zu versteifen, im individuellen Leben, hier und jetzt, das Glück er­fah­ren zu müssen, sondern es in der „Präfiguration des­sen“ zu finden, „was nach seinem Tod [dem Tod des Einzelnen, C.K.] ein­tre­ten sollte“25. Eintreten sollte. Denn es ist ein Zeit- und Sein­sollen, um das es hier geht, nicht nur ein Zeit- und Seinwollen oder –können – und auch nur insofern ein Zeit-Sein, als es ein an­de­res sein wird.

25 Vgl. Zoran Terzic, Idiocracy. Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten, Zürich 2020, v.a. S. 183ff.
26 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. v. B.-J. Fischer, Bd. 2: Im Schatten junger Mädchenblüte, Stuttgart 2014, S. 63.
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Musivische Texte – Absätze #23

Fehlender Glaube, aber an was? Was einen Menschen und die Menschheit zeit­phi­lo­so­phisch trennt, ist wenig mehr als deren jeweilige zeitliche Extension. Eben das macht die Melancholie des Seins zum Kon­stituens mensch­li­chen, ja eines menschenwürdigen Lebens. Das einzelne und das allgemeine, das partikulare und das universale Leben, alle diese Leben sind endlich; jedes Leben ist es. Aber im Ge­gensatz zu den Ge­schichten des Einzelnen, zu dem, was wir seine ‚Biografie‘ nennen, erscheint ‚die Geschichte‘, das heißt: die der Menschheit, schlecht(hin) un­endlich: Wer will sagen, wann sie endet? Was erlaubt uns, auch heute noch, wo es denkbar erscheint, vom Ende der Menschheit zu sprechen? Es sind ge­ra­de nicht die Trans-, Post- oder Metahumanisten, die es tun. Aber dass ich, die­ses sich ste­tig verän­dern­de Ich, in soundsoviel Jahren nicht mehr sein, nicht mehr leben wer­de, das ist ge­wiss. Eben des­halb geht alle Hoff­nung, jenseits jeder Gewissheit, ans All­ge­mei­ne, an die Mensch­­heit über. Denn dass das Leben des Einzelnen ohne das der Anderen, des allgemeinen und univer­salen sinnlos ist, dass es dann „um­so besser gelebt werden wird, je weniger Sinn es hat“24, das ist ebenso gewiss. Man wird mich fra­gen: Woraus schöp­fe ich diese Gewissheit? Ich sage: aus der erfahrbaren Über­nah­me des (auf­ge­scho­be­nen) To­des des An­deren durch die Anderen25. Ein Aspekt, den der Camus des „Sisyphos“ – im Gegensatz zu dem der „Re­volte“, der von der Geschichte spricht – noch nicht im Sinn hatte.

24 Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, a.a.O. (Anm. 10), S. 66.
25 Vgl. Christian Kupke, Zeiterleben als Erleben von … Zeit: ein philosophischer Versuch, in: Ewald, H.; Vogeley, K.; Voltz, R. (Hrsg.), Palliativ & Zeiterleben, Stuttgart 2020, S. 21-35, hier S. 32f.
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Musivische Texte – Absätze #22

Extensive Zeit (so lange wie möglich leben). Wenn in der Zeit, vielmehr als Zeit das Schicksal des Men­schen be­schlos­sen ist: wenn Ver­gäng­lich­keit im Einzelnen wie im All­ge­mei­nen, im Par­ti­ku­la­ren wie im Uni­ver­sa­len, wenn also das Absurde das letzte on­to­lo­gi­sche Wort hat, liegt es dann nicht – exi­stenz­phi­lo­so­phisch – nahe, auf die Quan­ti­tät der Zeit, auf ihre Länge zu setzen: den Tod, solange es irgend mög­lich ist, den Tod des Ein­zel­nen wie den der Menschheit, aufzuschieben? Albert Ca­mus schreibt zu­recht: „Wenn ich mich davon überzeuge, dass das Leben einzig das Gesicht des Ab­surden hat, wenn ich er­fah­re, dass sein ganzes Gleichgewicht auf diesem ständigen Gegensatz be­ruht zwi­schen mei­ner bewussten Auflehnung und der Dunkelheit, in der diese sich abmüht, wenn ich ein­räu­me, dass mei­ne Freiheit nur in ihrer Bezie­hung auf ihr begrenztes Schicksal sinnvoll ist – dann muss ich sagen, wo­rauf es an­kommt, ist nicht, so gut wie möglich, sondern so viel wie möglich zu leben.“22 Aber Camus führt den Gedanken nicht weiter; er kon­kre­ti­siert ihn nicht, und vor allem nicht in Be­zug auf das Allgemeine, die Menschheit. Nur zu sagen: „Quantität be­deutet manchmal Qua­li­tät“23, bringt kein Licht in das Ver­hältnis von So-viel- und So-gut-wie-möglich. Lässt denn die reine Ex­ten­si­on ein So-gut-wie möglich überhaupt zu? Ist nicht die Zeit selbst be­reits eine in Qualität verkehrte Quantität, eine Version ihrer selbst und als diese: Intension?

22 Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, a.a.O. (Anm. 10), S. 73f.
23 Ebd., S. 75 Fußnote.
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Musivische Texte – Absätze #21

„Risse knacken im Beton / Der Wunsch, sie zu vergrößern, neue Version / Alte Gespenster, neue Kontur / Manifestation in einer Partitur.“ (Die Wände, GRCD 1509, 2022, Song „Die ewige Bau­stel­le“)

Seinsmelancholie. Seinsmelancholie ist, weil Sein Zeit ist, also Zeit-Sein, Zeit­me­lan­cho­lie. Sie ist die verinnerlichte Trauer über das Vergehen der Zeit des Seins – nicht der Zeit selbst, sondern, wie man sagt, in der Zeit, eben des Seins. (Warum dieses In-der-Zeit-Sein, im Gegensatz zum Im-Raum-Sein eine irreführende Me­ta­pher ist: eine Metapher der Ver­räum­li­chung21, wird noch zu klären sein.) Me­lancholie über das Vergehen der Zeit des Seins, das heißt: Diese Melancholie ist Melancholie sowohl über das Ver­gehen des Einzel­nen, des Men­schen, und des Allge­mei­nen, der Menschheit, als auch über das Vergehen des par­tikularen, einzel­nen Le­bens, und des uni­versa­len, gesamten Le­bens auf der Er­de. Ist es in diesem Zusammenhang erforderlich, daran zu erinnern, dass dieses Ver­ge­hen nicht nur ein notwendiges Implikat der Idee der Zeit darstellt: „Wir können nicht nicht zeitlich exi­stie­­ren“, son­dern auch deren negatives Ideal ermöglicht: eine Po­ten­ti­a­li­tät, der die Mensch­heit ge­rade heute beharr­lich folgt: in ihrer Tendenz zur Kriegsführung ge­gen­ein­an­der und gegen den Glo­bus, d.h. gegen die Na­tur, in der alle Zeit, die den Men­schen noch bleibt, buchstäblich „grün­det“?

21 Vgl. Henri Bergson, Zeit und Freiheit, übers. v. K. R. Romanòs, Hamburg 1994, S. 70ff, insbes. S. 76.
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Musivische Intervention – Das Anthropozän

Erster Teil1

Begriffswort ‚Anthropozän‘. ‚Das Anthropozän‘ beschreibt aus philosophischer Sicht – und ich be­tone die Kennzeichnung dieser Sicht als philosophisch – einen mensch­heits­ge­schicht­li­chen Zustand, in dem der Mensch in allem, was ihm begegnet, am Ende immer nur auf sich selbst trifft: entweder in Form einer dauerhaften Einprä­gung seines Tuns in die materielle Welt, die dadurch zu der kulturellen Welt wird, in der er lebt, oder aber in Form dauerhafter Spuren dieses Tuns in dem, was er die natür­liche Welt nennt, die er zu­nehmend okkupiert und so – hinter Kultur und Zivilisation – zum Ver­schwinden bringt.

Verlust des Außen. Für mich als Philosophen wirft das Begriffs­wort ‚Anthropozän‘ die Fra­ge nach dem Verhältnis von Natur und Kultur auf. Und es beantwortet für mich diese Fra­ge in der Weise, dass wir heute von einer Natur im eigentlichen Sinne – wir reden hier manchmal auch, durch­aus adäquat, von einer ‚un­be­rühr­ten Natur‘ – nicht mehr sprechen können: Es gibt – diesseits der kosmologi­schen, lebens­feind­­lichen Exosphäre der Erde – nichts wahrhaft Anderes, kein Außen der menschli­chen Be­züge mehr, und wenn es ein sol­ches Außen gibt, ist es gerade dabei zu ver­schwin­den oder in Kultur über- bzw. un­ter­zu­ge­hen.

*

Normative Komponente. Im Gegensatz zum strikt geologisch-metereologischen Begriff des Holozäns ist das ‚Anthropozän‘ nicht nur ein naturwissenschaftlicher, sondern auch ein kulturphilosophischer Begriff mit einer un­verkennbar normativen Komponente. Damit meine ich: Das Anthropozän ist, an­ders als das Holozän, von seinem – dystopischen – En­de her gedacht, nicht von seinem Anfang. Das Begriffswort ist weni­ger eine retroaktive als vielmehr eine proaktive Kennzeichnung, eine, die uns daran erinnern soll, was diese Erde einst gewesen sein wird: eine von Menschen ge­staltete, genauer: entstellte, verun­stalte­te Welt. Darin liegt ihr kritischer, weil ökologieethischer Kern.

Restriktive Verantwortlichkeit. Die Botschaft des „Anthropozäns“ lautet: Jahr­hun­der­te­lang sahen die Menschen, wenn sie von ihrer kulturellen und zi­vi­li­­satorischen Höhe aus in die Natur schauten, nur Niederungen, Ab­gründe, abgrundtief Fremdes. Aber mit der em­pi­risch-wissen­schaftlichen, insbe­son­dere naturwissen­schaftlichen Wende seit dem 17. und 18. Jahr­hun­dert wurde die Natur uns, kraft unserer technologi­schen Herrschaft über sie, immer ver­trau­ter, so dass sie nun am Ende, im 20. und v.a. im 21. Jahr­hundert, nur noch unser ei­ge­nes Ge­sicht zeigt: als Fratze. Wir sind, erkennen wir auf ein­mal, nicht nur allein, wir sind für das, was wir im­mer noch ‚die Natur‘ nennen, auch allein verant­wortlich.

*

Utopie der Aufklärung. Man könnte zunächst fragen: Wo liegt das Problem, wenn der Mensch in der Natur auf sich selbst trifft, sich selbst in ihr wiedererkennt? Ist und war das nicht die Utopie der Auf­klä­rung gewesen, die Utopie einer aufgeklärten Welt, in der der Mensch, unbehelligt durch die unbe­rechenbaren Kräfte der Natur, in Sicherheit, Frieden und Wohlstand leben kann? Theoretisch hätte der Mensch eine solche Utopie realisieren können, und die Anzeichen dafür standen, wenn wir den philosophischen Konzepten von Descartes über Kant zu Marx bis in das letzte Jahrhundert hinein Glauben schenken wol­len, gar nicht so schlecht: Be­frie­dung der Menschheit durch wissenschaftlich und tech­no­lo­gisch an­ge­leitete Beherrschung der Natur – das schien ein sinnvolles und zukunftswei­sendes Konzept zu sein.

Umschlag in Dystopie. Aber das Gesicht des Menschen in der Natur hat sich mitt­ler­wei­le zu einer Fratze verzogen, weil die Uto­pie von Anfang an von einer unfairen Kon­stel­la­ti­on ausging, in gewisser Weise selbst schon – klein­ge­schrie­ben – „anthropozän“ war. Denn die Natur, die Erde und die nicht-menschlichen Krea­turen hat­ten in dieser für Men­schen und nur für Menschen entworfenen Utopie kein Mitspra­che­recht. Sie wurden ent­we­der als In­stru­men­te des Fortschritts oder wahlweise als Res­sourcenspender und Müll­platzhalter ver­kannt, nicht jedoch als Nutznießer des Fortschritts mit in den Prozess ein­be­zo­gen. Die Folgen davon sehen wir heute: dramatische Veränderungen des Klimas mit wachsenden Wüsten und zunehmenden Überschwemmungen gleichermaßen, weltweite Vergif­tun­gen von Böden, Wasser und Luft, globale Verteilungskämpfe und Kriege um knapper wer­den­de Res­sourcen usw. usf. Die Welt, unsere „anthropozäne“ Welt sieht in ihren Abgrund.

*

Verpflichtung zur Kritik. Wenn wir vom Anthropozän sprechen, sind wir angesichts der nor­ma­ti­ven Konnotationen des Begriffs, sobald wir darüber arbeiten, schreiben oder spre­chen, in einen kri­tischen Diskurs eingebunden, in ihm befangen oder auch gefangen, ob wir es nun wollen oder nicht. Wir können uns einerseits, wenn wir skeptisch sind, von der moralischen Wucht dieses Begriffes ab­wen­den und diejenigen kritisieren, die in einen Alar­mis­mus verfallen, den wir als kontraproduktiv emp­finden mögen. Aber wir können uns von der Wucht dieses Begriffes auch tragen lassen und uns, un­sererseits kritisch, dem Vorwurf des Alarmismus stellen, weil wir die Be­drohung, die im Begriffs­wort ‚An­thro­po­zän‘ mitschwingt, ernst nehmen wollen.

Kommunikativer Appell. Was wir auch tun, wir können uns zum Anthropozän als Künst­ler, Literaten, Philosophen usw. nicht nicht verhal­ten. Denn wenn wir uns dazu nicht ver­hal­ten, so verhalten wir uns gerade doch dazu – eben weil wir Men­schen sind und als sol­che im Wort – ανθρωποι / anthropoi – direkt angesprochen werden. Das Begriffswort ‚Anthropozän‘ ist also nicht irgendeines, es ist – einmal als das ver­stan­den, was es objektiv bedeutet – ein kommunikativer Apell an jedermann und jede Frau, unüber­hörbar, un­über­seh­bar, unausweich­bar. Das Faktum, das dieses Wort bezeichnet, lässt sich durch Sprache und Sprechen nicht aus der Welt schaffen. Und sollte es doch jemand versu­chen wollen, so wäre es gerade unsere Auf­ga­be als Kulturschaffen­de der sprachlichen Lüge, die darin liegt, entgegenzutreten. Denn die naturschaffenden Kräf­te können es nicht – sie sind sprachlos, stumm und stellen insofern keine eigene Stimme im Chor der Kritiker dar.

*

Möglichkeit eines anderen Diskurses. Ich sehe unter vielen Konsequenzen des An­thro­po­zäns, die wir thematisieren könn­ten, zwei besonders hervorstechen­de: Die erste ist die, die ich auch an mir selbst als Kulturschaffen­dem wahrnehme: Durch die im Wort ‚An­thro­po­zän‘ mitschwingende Dramatik fühle ich mich in mei­ner Arbeit aufgestört, viel­leicht pro­duktiv gestört, aber in jedem Fall nicht beru­higt oder gar bestä­tigt. Denn das Wort führt einen neuen Sig­ni­fikanten in den kulturellen Diskurs ein, der diesen, will er aktuell sein, grund­legend ver­ändert: Wie weit, könnte die Frage lauten, bin ich selbst im An­thro­po­zän befangen, halte ich am gewohnten kul­turellen Dis­kurs fest? Und wie sähe ein an­de­rer, nicht „anthro­po­zäner“ – ge­gen die Ursachen und die Folgen des Anthropozäns wi­der­stän­di­­ger – Diskurs aus? Gibt es einen sol­chen überhaupt? Muss er nicht erst etabliert wer­den?

Die Gefahr der Verkennung. Und die zweite Konsequenz ist die, die aus der objektiven Be­stands­auf­­nah­me des Anthropozäns re­sultiert: die eines notwendigen Engagements, ei­ner engagierten Kunst, die sich dem Problem, das im ‚An­thropozän‘ konzentriert ist, stellt. Das heißt, der umstrittene Begriff muss im künst­le­rischen Pro­zess Bild werden; er muss in ihm jene Anschaulichkeit erhalten, die er außerhalb der Kunst wohl nur durch die Er­fah­rung der konkreten Folgen des Anthropozäns gewinnen kann. Hier, in der Kultur­er­kennt­nis, gilt, was auch in der Naturerkenntnis schon lange gilt: Zwar wäre das Bild, das des An­thro­po­zäns, oh­ne den ihm korrespondierenden Begriff blind, aber auch der Be­griff ohne das ihm kor­re­­spon­die­ren­de Bild leer. Genau in dieser Leere liegt die Gefahr seiner Ver­ken­nung, einer Verken­nung, die uns glauben lässt: im Anthropozän ginge es um alles an­de­re, nur nicht um uns selbst.

Zweiter Teil2

Definition. ‚Das Anthropozän‘ ist dasjenige Zeitalter der Erdgeschichte, in dem der Mensch zur alles beherr­schenden Spezies sowohl über die belebte als auch über die un­be­leb­te Natur geworden ist, und zwar so, dass die durch den Menschen initiierten Ver­än­de­run­gen unabänderlich geworden sind. Das gilt nicht nur für den Ressourcenabbau, den Artenverlust, das Abschmelzen der Gletscher oder ge­nerell für die Folgen des Kli­ma­wan­dels und für diesen selbst. Es gilt auch für alle die Fälle, in de­nen der Mensch in der Lage ist, entstandene Folgen seines Tuns in der Natur wieder auszuglei­chen, z.B. durch das Wiederanpflanzen von Wäldern, durch die Einrichtung von Naturparks und Ähnliches. Denn auch für dieses Tun des Menschen gilt die oben formulierte Definition.

Zwei Phasen. Insgesamt kann man das Anthropozän, wenn auch etwas gezwungen, in zwei Phasen einteilen: in eine erste Phase, in der der Mensch zur beherrschenden Spezies über die gesamte äu­ßere Natur wird – diese Phase ist bereits weitgehend abgeschlossen – und in eine zweite Phase, in der der Mensch zur beherrschenden Spezies auch über die innere, d.h. über seine eigene Natur wird – diese Phase, die weitgehend KI-betrieben ist, hat so­eben erst begonnen. Wenn sie abgeschlossen sein wird, mögli­cherweise erst in ein / zwei Jahrhunderten (falls die Menschheit, die dann eine post­humanistische sein wird, bis da­hin überlebt), wird auch das Anthropozän beendet sein und werden wir eventuell von so etwas wie einem „Robotozän“ oder dergleichen sprechen.

*

Anthropologische Folgen. Aus philosophischer Sicht hängt die Beantwortung der Frage, in­wie­fern KI die Realität verändert bzw. erweitert, vom Begriff der Reali­tät ab, den man zugrundelegt. Wenn man von so etwas wie der ‚menschlichen Reali­tät‘ sprechen kann – zu der die Kultur des Menschen im Ge­gensatz zur Na­tur we­sent­lich gehört –, so sind die Ver­än­de­run­gen schon heute unverkennbar. Was der Mensch ist und damit unsere gesamte Anthropologie müssen wir unter digitalen bzw. KI-As­pekten völlig neu denken (ge­ne­ti­sches und elektronisches Enhancement, Ein­satz von KI in unserem Alltag, Rück­wirkungen digi­taler Kopplungen auf unser neurolo­gisches Setting etc.). Und angesichts mögli­cher Mensch-Maschine-Kopplungen wird man hier sicherlich – aber ich denke, das ist noch viel zu wenig gesagt – von einer erweiterten Realität sprechen können.

Auf dem Weg zur Post- oder Transhumanität. Anders sieht es dagegen mit der so ge­nann­ten ‚na­tür­li­chen Realität‘ aus. Diese ist, verstanden als äußere Realität, sig­nifikanterweise von KI (im en­geren Sin­ne) gar nicht betroffen, da alle KI eine Kopie menschlicher In­tel­li­genz sein will und meines Wis­sens von „natürlicher Intelligenz“ bei ihrer Produk­tion gar nicht ausgegangen wird. Sie ist im Anthro­pozän insofern de­ren zweite Phase, als der Mensch mit ihr nicht nur die Herrschaft über die äu­ßere, son­dern auch über die innere, d. h. über seine ei­gene Natur gewinnt. Er kann sie und damit auch sich selbst nach seinem ei­ge­nen Willen model­lieren und damit so etwas wie eine Post- oder Trans­huma­nität schaf­fen.

*

Freiheit der Kunst. Wenn es so etwas wie die Kunst über­haupt (noch) gibt, würde ich an­neh­men, dass sie mit dem Anthropozän genau so oder zumindest auf ähnli­che Weise um­geht, wie sie mit allen his­torischen Besonderheiten und Eigentümlichkeiten des Menschen umgeht: Sie stellt sie dar oder greift sie in ihren Darstellungen auf, sie gestaltet sie oder macht sie zum Grund ihrer Gestal­tung. – Indem sie das tut, kritisiert sie ggf. Merkmale und Folgen des Anthropozäns; aber ggf. affir­miert sie sie auch, wo sie sie affirmieren kann. Die Kunst besaß schon immer diese beiden Alter­na­tiven (und alle Graustufen da­zwi­schen); und sie wird sich sicher­lich nicht auf eine einzige Alternative festlegen lassen. – Schließlich kann sie aber auch auf beide Alternativen verzichten und sich gar nicht mit dem Anthropozän auseinandersetzen wollen (ob es ihr gelingt, ist eine andere Frage). Die Freiheit der Kunst ist hier, wie schon immer, weitgehend unbegrenzt.

*

Autorschaft: umstrittenes Konstrukt. In kulturtheoretischer Hinsicht war Autorschaft schon immer ein um­strit­tener Begriff, bzw. Autor­schaft konnte nie streng auf ein einzelnes Individuum (den Au­tor) be­grenzt werden. Denn, um es sehr allgemein zu formulieren, der Prozess oder Fort­schritt der Kultur ist ein mensch­heitsgeschicht­lich-kollektiver, kein in­di­vi­du­el­ler. Jede individuelle Autorschaft, geht hier, auch wenn sie plausibel gemacht wer­den kann, stets auf eine Fülle von Autoren zurück, die die individuelle Autorschaft mehr oder minder stark relativieren. Insofern ist die Infragestellung von Autorschaft durch die heutigen digitalen Möglichkeiten, Stichwort „ChatGPT“, nur die Sicht­bar­ma­chung dessen, was kulturtheore­tisch schon immer gegolten hat: Es gibt kein geistiges Eigen­tum.

Autorschaft: unumstrittenes Konstrukt. In rechtlicher Hinsicht darf Autorschaft jedoch nicht um­strit­ten sein, denn wenn das geschieht, sind bestimmte Eigentumsverhältnisse, die für das kapitalisti­sche Funktio­nieren unserer Wirtschaft es­sen­ziell sind, in Frage ge­stellt. Deshalb wird es, auch und ge­rade unter digitalen Voraussetzungen, immer wieder Be­stre­bun­gen geben, Bedin­gungen von Au­torschaft, wenn irgend möglich, fest­zu­schrei­ben. Und diese Bestre­bun­gen können gewissermaßen gar nicht miss­lin­gen, da sie einer syste­mi­schen – und von den meisten „Autoren“ auch gewollten – Logik bzw. imma­nenten Notwendigkeit unseres Wirtschaftssystems unterliegen.

Autorschaft: sinnvolles Konstrukt. Etwas anderes ist die Frage, ob denn Autorschaft, an­ge­sichts digi­ta­ler Möglichkeiten wie ChatGPT, Neuroflash, Chatsonic usw., überhaupt noch ein sinnvolles indivi­duel­les Konstrukt sein kann. Meine Antwort darauf wäre: ja, insofern Autorschaft nicht nur auf Fra­gen des Wissens bzw. auf Inhalte des Wissens, auf sogenannte ‚Informati­o­nen‘ beschränkt werden kann, sondern auf Formen und Stile von Gestaltung, auf kontextuelle Kohärenz und Wieder­er­kenn­barkeit bzw. intendierte In­ko­hä­renz und Nichtwiedererkennbarkeit und vergleichbare Aspekte aus­gedehnt werden sollte. In diesem Fall könnte oder müsste man m. E. streng zwischen Autorschaft und Urheber­schaft unterscheiden: Chat­GPT z.B. mag am Ende der Urheber gewisser Inhalte sein, mit de­nen ich (als Autor) arbeite, aber ich bin mir dabei bewusst, dass deren Autor­schaft der Urheber­schaft von ChatGPT noch weit vorausliegt.

*

Blick in die Zukunft. Ich habe es oben schon angedeutet: Die Zukunft der Menschheit wird, falls es für sie denn über­haupt eine Zukunft geben wird, vermutlich eine trans­hu­ma­ni­sti­sche sein, eine Zu­kunft, die – ich spe­kuliere hier – in so etwas wie in ein „Roboto­zän“ mün­den könn­te – und damit in eine Form der Kunst, die sich, denke ich, unseren ge­gen­­wär­ti­gen Vor­stellungen und Visionen noch ent­zieht. Denn bis es so weit ist, werden wahr­schein­lich noch ein / zwei Jahrhunderte ins Land ge­hen, so dass ich für die kom­men­den Jahrzehnte keine wesent­lichen Veränderungen (in) der Kunst er­warte.

Dystopische Annahme. Ob die transhumanistische Zukunft eine utopische oder dys­to­pi­sche Zukunft sein wird, ist schwer zu sagen. Angesichts vieler anderer Probleme, die die Menschheit immer noch nicht gelöst hat und wie ein Bergmassiv vor sich hinschiebt (die schein­bar unausrottbare Kriegsbe­reit­­schaft des Menschen, das nicht enden wollende Fak­tum von Hunger und Elend auf der Welt, die ideologische Kakophonie, die jede uni­ver­sa­li­sti­sche Vision unmöglich macht), neige ich eher zu einer dystopischen An­nahme.

Persistenz der Menschheitsprobleme. An dieser Dystopie wird m. E. auch eine zukünftige Welt­raum­­be­siedelung nichts ändern, da mit dieser allein keine qualitative Veränderung der Ursa­chen und Fol­gen des Anthropozäns verbunden sein wird. Der Mensch macht dann dort im Weltraum ein­fach so weiter wie zuvor. Probleme, die er hier auf diesem Glo­bus nicht ändern wird, wird er mit Si­cher­heit auch irgendwo in der Ferne des Weltraums nicht än­dern. Das einzige, was er sich damit ver­schaf­fen könnte, ist mehr Zeit – Zeit zur Lö­sung eben dieser Probleme.

1 Rede-/Text-Beitrag anlässlich der Vernissage der Ausstellung „Erweiterte Realitäten“ im Verein Berliner Künstler e.V. (https://vbk-art.de/) am 3.11.2023
2 Rede-/Text-Beitrag anlässlich der Finissage der Ausstellung „Erweiterte Realitäten“ im Verein Berli­ner Künstler e.V. (https://vbk-art.de/) am 26.11.2023.
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Musivische Texte – Splitter #10

91

Dreischritt – Wahrheit und Hoffnung sind einander diametral entgegengesetzt. Die Wahr­heit ist der Schrecken, die Hoffnung ihre Widerlegung, die Freiheit der Weg dorthin.

92

Einsicht aus umgekehrter Richtung II – Falsch lesen ist richtig. Allerdings, man weiß es erst hinter­her. Das ist das Risiko von Freiheit.

93

Als Negation – Freiheit lässt sich nur als Position nicht denken. Freiheit, auch als positive, ist negativ, insofern sie in actu Negation ihres Implements ist: Negation der Unfreiheit. Das hat Sartre erkannt, als er die cartesianische Freiheit als „Sich-Losreißen“ bestimmte. Da­ran geht kein Weg vorbei. Wer es bestreitet, bestätigt es gerade.

94

Nicht gleichgültig – Die Freiheit der Indifferenz ist zunächst Rückzug – von Differentem – und insofern Negation. Allerdings, ob sie dann noch indifferente und nicht schon dif­fe­ren­te Freiheit ist, bleibt die Frage.

95

Wortreich oder nicht, es läuft auf das Gleiche hinaus – Ich kann über Freiheit viele Sätze schreiben. Ich kann es aber auch bei einem belassen: „Ich kann … – das ist Freiheit.“

96

Zutiefst menschlich – Illusionen sind unausrottbar. Wer das begreift, ist zumindest von ei­ner Illusion befreit.

97

Versierter Pluralismus – Freiheit ist Potentialität im Plural. Jede Einschränkung unserer Potentialitäten ist auch eine Einschränkung unserer Freiheit. Potentialitäten ungenutzt zu lassen, bedeutet selbst, eine Po­ten­tialität zu nutzen – eine potenzierte Potentialität, durch die wir erst sind, was wir sind.

98

Basal – Der Mensch ist zunächst Natur, und das heißt: Kreatur. Was er sonst immer sein mag: ein freier Mensch, er ist nicht vom Himmel gefallen, er ist ein Produkt, und was er auch immer den­ken mag, nicht sein eigenes.

99

Nicht wahr? I – „Der Mensch lebt in seiner Vorstellung, und nur dort.“ (Herrndorf) Eben da­rin erweist er sich als frei. Aber auch nur in ihr befreit er sich.

100

Unauslotbare Potentialitäten – So, als ob – in einer Art Wiedergeburt – jedes Be­wusst­sein, das erlischt, wieder in einem neuen Bewusstsein erwachen würde, hätte ich dies oder das werden kön­nen und wäre dann so, wie die anderen sind oder ganz anders, und um­ge­kehrt. In mir liegen die Potentialitäten der anderen, ich bin eine Potentialität von ihnen. Das ist eine Version von Freiheit.

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Musivische Texte – Splitter #9

81

Schlaf der Gerechten I – „Ich frage mich, warum es einer unsere Zivilisation und unseren gesamten Planeten im glo­ba­len Maßstab gefährdenden Katastrophe bedarf, um uns auf­zu­we­cken?“ (Marina Abramo­vić) Ich frage mich: Sind wir denn schon aufgewacht? Was nützt alles Aufwecken, wenn kei­ner wach wird.

82

Zorn und Wut allein? – Im Namen von Widerstand agieren heute Viele, aber die Wenigen leisten ihn. Die Vielen bleiben im Widerwillen stecken. Der Platz scheint schon besetzt, aber er ist leer.

83

Automaton – Als Descartes das Maschinenhafte der Natur, ja des Kosmos entdeckte, ver­stand er dies als ein Werk, als das Werk göttlicher Schöpfung. Er, der fromme Katholik, hätte begreifen kön­nen, dass es das Sehnsuchtswerk eines in die Natur, den Kosmos ge­stell­ten „sündigen“ Wesens, also ein kapitaler, wenn nicht kapitalistischer Irrtum ist.

84

Einsicht aus umgekehrter Richtung I – Falsch singen ist richtig. Allerdings, man weiß es erst hinterher. Das ist das Risiko des Widerstands.

85

Riskantes Manöver – Gerd Irrlitz schreibt in seinem bedenkenswerten ‚Versuch über Descartes‘: „Es lohnte wohl ein­mal, die Utopie zu durchdenken, daß eines Morgens die mo­ra­lisch verwerflichen Men­schen aus der Wissenschaft ausgeschlossen würden. Das wä­re zu mancher Zeit eine starke Be­wegung gewesen.“ Worüber Irrlitz hier irrlichtert, ist für viele autoritärer, wenn nicht totalitärer Irr­sinn. Aber Irrsinn ist nicht Unsinn und Au­to­ri­tät kein Gegenargument. In diesem Fall ist der Irrsinn sogar die Wahrheit und die Au­to­ri­tät der einzige Weg, ihr Geltung zu verschaffen.

86

A. l. v. b. – Für ein philosophisches Leben ist das biologische zu kurz, für ein biologisches das philo­sophische zu lang. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Kultur die Kreatur überlebe. Die Kultur geht am Ende in oder mit der Kreatur zugrunde – zu ihrem Grund: zur Natur.

87

Der somatische Anteil – Geben wir unserem Körper Befehle, führt er sie aus. Geben wir un­se­rem Willen Befehle, erfährt er körperlichen Widerstand. Freiheit wäre nicht, schreibt Adorno, wäre die motorische Reaktionsform ganz liquidiert, zuckte nicht mehr die Hand.

88

Es reimt sich (auf Tod) I – Die Würde des Menschen erwächst aus seinem Stolz im Wi­der­stand gegen den Tod. Wer keinen Widerstand leistet, ist ein Idiot.

89

Fortschritt – Die Menschheit hat, je weiter sie durch die Jahrhunderte schritt, sich dem Wahn­sinn ergeben. Sie hat sich, um ih­rer Unvernunft willen, auf die Vernunft berufen. Die Folgen ereilen uns heute: Die Unvernunft kann nur um der Vernunft willen aufgerufen wer­den, nicht umgekehrt.

90

Schlaf der Gerechten II – Wollen wir einander aufwecken, muss – am Anfang der Pro­ze­dur – minde­stens eine/r wach sein.

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Musivische Texte – Splitter #8

71

Vergebliche Negation I – Wenn ich nicht nicht reden und auch nicht nicht wissen kann, dann be­deu­tet Laotses implizite Forderung „Der Wissende redet nicht, der Redende weiß nicht“, dass das Schweigen des Wissenden nur eine Form des Redens und die Ignoranz des Redenden nur eine Form des Wissens ist. Dialektik, als eine Dialektik der Form, hat hier ihren Ursprung.

72

Grund, Idee – Unter dem Begriff der Idee fassen wir alles, was wir nicht nicht tun können. Damit ist die erste Idee, die Grund-Idee schon gesetzt: Wir können nicht nicht handeln.

73

Nicht nicht handeln, aber schweigen – Formuliere ich eine Handlung, verbinde sie mit ei­nem Zweck und führe sie aus, bleibt die Handlung, als ein Vergangenes, im Gedächtnis. Der Zweck, als ein dem Ge­dächtnis Frem­des, Zukünftiges, bleibt vergessen. Unsere Ver­gan­gen­heit ist stets eine Vergangen­heit der Taten, nicht der Wor­te.

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Unmöglich, nicht frei zu sein – Wir können uns unser Leben nicht aussuchen, aber eben da­rin auch nicht nicht frei sein. Das ist die Idee. Aber wir können unsere Freiheit ver­voll­komm­nen. Das ist das Ideal. Vollkom­mene Frei­heit ist diejenige, deren Leben gelingt.

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Sein ist Zeit – Der Subjektivismus der Moderne gibt sich gerne tautologisch, das heißt du­a­li­­stisch: Was denkt, kann, solange es denkt, nicht nicht existieren. Aber die Tautologie, der Dualismus ist Schein, weil das Sein, so­lange es denkt, bereits als Zeit in Anspruch ge­nom­men wurde.

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Notwendiges Boreout – Amy Winehouse und Herman Brood fanden ihr Leben ohne Dro­gen langweilig. Sie verlor ihr Leben – unter Drogen. Er nahm es sich – im Entzug. Wir kön­nen uns, wenn wir leben wol­len, nicht nicht langweilen.

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Heideggern – Ich bin immer schon auf meinen Tod zugelaufen. Denn solange ich denke, kann ich zwar nicht nicht existieren, aber solange ich existiere, kann ich auch nicht nicht ster­ben. Der Tod ist eine ständig gegenwärtige Möglichkeit und eine zukünftige Not­wen­dig­keit. Wider­stän­dig zu sein heißt: Notwendigkeit/en Möglichkeit/en werden zu lassen.

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Nicht suchen. Finden – Die einen suchen in ihrem Leben nach Sinn, die anderen halten das für absurd. Kommt es darauf an, wie wir Sinn definieren? Unter der Sinn-Hinsicht nicht: Für die einen ist es sinnvoll, nach Sinn zu suchen, für die anderen nicht. Sinn wird, ohne dass wir nach ihm suchen, immer schon gefunden, wir können ihn nicht nicht fin­den. Fazit: „Stop Making Sense“ macht keinen Sinn.

79

Grenze der Negativität – Levinas sagt: „Man spricht üblicherweise vom Wort Sein (être), als wäre es ein Substantiv, obwohl es das Verb schlechthin ist.“ Als Verb schlechthin be­zeich­net Sein ein Tun, genauer eine Idee: das Tun, dem wir uns nicht ent­zie­hen können, dem Nicht-Nicht-Tun nämlich.

80

Vergebliche Negation II – Wenn die erste Idee – gewissermaßen die Ur-Idee, besser die  Grund-Idee – die ist, dass ich nicht nicht han­deln kann, dann ist Laotses Forderung, zu han­deln, ohne zu han­deln, die einzig mög­liche Auf­forderung, nicht zu handeln.

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Musivische Texte – Splitter #7

61

Der Puls der Zeit – Das Herz der Texte schlägt anders, widerständiger als das Herz der Men­schen; es pulsiert in ei­ner anderen Zeit – langsamer, bedächtiger, dem Tod ferner. Man­cher unserer Zeit, der Leser, der Vieles liest, mag sich wundern. Doch manchmal trägt ein einziger Absatz, ein Puls­schlag durch ein ganzes Leben.

62

Neue Originalität – „Nichts nimmt ein gutes Ende für den, der nur wartet.“ Einige Ver­schrei­bun­gen, wie die von Tolstoi, lassen sich nicht mehr rekonstruieren, weil man ab­ge­war­tet hat, sich das Origi­nal zu notieren.

63

Keine halben Sachen – Wenn das Leben nach Joseph Roth ein elender Abklatsch schlech­ter Ro­mane ist, dann ist die Erfüllung der Aufgabe, gute Romane zu schreiben, erst die hal­be Erfüllung.

64

Monolog / Polylog – Texte richten sich stets an den Anderen. Obwohl fast jeder es tut, schreibt doch keiner für sich. Niemand ist seine Zielgruppe.

65

Was habe ich noch mal gelesen? – Philosophische Texte sind Anlässe des Denkens – und wol­len nicht mehr sein. Weil sie im eigenen Denken aufgehen, werden sie dort auch ver­ges­sen.

66

Kluft – Man setze die Klarheit und Deutlichkeit Descartes‘ gegen die Unklarheit und Un­deut­lich­keit seiner philosophiewissenschaftlichen Text-Ausleger. Dann öffnet sich die Kluft: zwischen dem Text-Ge­nie und den Text-Stümpern.

67

Wi(e)derlesen – Die wahre Figur des philosophischen Lesens ist die von Vor- und Rück­kehr. Vor­kehr, das heißt Text-Übersprung, Rückkehr -Rücksprung. Was fehlt, ist der Text-Absprung, der in Vor- und Rückkehr schwer zu finden ist – zum Schreiben.

68

Die Kathedrale der Texte – Hegel war ein weiser Mann. Er kannte, im Gegensatz zu dem, was seine the­oretischen Ausleger sagen, den Widerspruch von Theorie und Praxis. Er bau­te sich, wie Kier­ke­gaard irgendwo an­merkt, ein Schloss, aber wohnte, schön bescheiden, im Gartenhaus neben­an. Rudy Harper kommen­tiert das zwar nicht, aber schreibt hell­sich­tig: “A mouse, living in a cathedral, is still a mouse.”

69

Eine Form des Widerstands – Manche lesen, um die Zeit zu überbrücken, manche, um die Brücke der Zeit einstürzen zu sehen.

70

Bewegte Stille – In Texten kommt das Denken zum Stillstand – und so dem eigenen Zeit­kern auf die Spur.

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