Musivische Texte – Absätze #20

Gerechter Widerstand. Was bedeutet es, Widerstand zu leisten – bis zum Ende – ge­gen das Ende, sei es das individuelle oder kollektive Ende? Camus behauptet, dass „das wesentliche Unternehmen der Revolte“, also dessen, was sich auch als Wi­der­stand be­zeich­nen ließe, „darin besteht, das [christ­li­­che / religiöse] Reich der Gnade zu ersetzen durch das [säkulare] der Gerechtig­keit“. Denn „der Glau­­be“, heißt es dort weiter, „setzt die Hin­nahme des Mysteriums und des Bö­sen vor­aus, die Resig­nati­on vor der Un­ge­rech­tig­keit“20. Lasse ich den Kontext, in dem Camus diese Sät­ze verstanden wis­sen will, bei­seite: den einer Deutung von Dostjewskis Iwan Karamasow, und fokussiere ich mich auf de­ren ge­nera­li­sierbare Aussage, so konfrontieren sie mich mit ei­ner grundle­genden Wahrheit: Die Re­nais­sance des Glau­bens, einerseits eines fundamenta­listischen, aber auch gno­sti­zistischen, ande­rer­seits eines eso­teri­schen, aber auch konsumistischen Glaubens, sind Kennzeichen einer fortdau­ern­­den Re­signation angesichts des Ausbleibens globaler und generativer Gerechtig­keit, Kennzeichen ei­nes ent­täuschten Denkens. Widerstand zu lei­sten hieße, dieser Resignation die Stirn zu bieten und eben da­durch Ge­rechtigkeit ein­zu­for­dern.

20 Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Essays, übers. v. J. Streller, Hamburg 2020, S. 83
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Musivische Texte – Absätze #19

Zeitverlust. Der Menschheit läuft allmählich die Zeit davon, weil sie Jahrhunderte hin­durch gelebt hat, als ob sie nie ster­ben müsste. Diese Illusion hat ihren Grund auch, aber nicht nur, im histori­schen Sieg des Men­schen über Mensch und Natur, in der Etablierung von Herrschaft und Knecht­schaft. Nur der, der den eigenen Tod riskiert, über die Natur trium­phie­rt, kann, hat Hegel gesagt, auch „Herr“ werden18. Der Knecht bleibt daher in dieser Konzeption auf die Natur verwiesen, der Herr dagegen wähnt sich schon der Kultur zugehörig. Dem Negativen ins Angesicht zu schauen, hieß, im Kampf auf Leben und Tod den „absolu­ten Herrn“, den keiner besiegt, herauszufordern19. Nun aber, da die Mensch­heit glo­bale (Ge­nerationen-) Ge­rechtigkeit nicht herzu­stellen vermochte, geht sie ihrem ei­genen Tod ent­gegen und hätte, wenn es denn so weit käme, in der Begegnung mit ihm, nie­­man­den mehr, au­ßer vielleicht ei­nen Gott, den sie verknechten könnte. Der Kampf auf Leben und Tod wäre in keiner ande­ren Stra­te­gie mehr zu ver­rech­nen als in der zu über­le­ben. Das aber hieße, der Kampf wäre alles an­dere als kultur­bildend. Er wäre der Rückfall der Menschheitskultur in ihre histori­sche Vor­zeit: zu­nächst in die Bar­ba­rei und dann in den Na­turzustand, in dem es keine Gerech­tigkeit (mehr) geben kann. Die Ge­schich­te be­gän­ne, vielleicht, von vor­ne.

18 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Band 3, Frankfurt/M. 1970, S. 149f.
19 Ebd., S. 153
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Musivische Texte – Absätze #18

Angesichts der Natur. Dass die Kultur ein Emergent der Natur ist, wird nirgends deut­li­cher als in der Betrachtung des Ver­hält­nisses von Güter-Aneignung, -Produktion, -Tausch und -Verteilung. Niemand kann Güter tau­schen, über die er nicht verfügt. Sie müs­sen verteilt werden. Aber um sie verteilen zu kön­nen, müs­sen sie produziert werden. Und um sie produzieren zu können, müssen Res­sour­cen und Pro­duktivkräfte an­ge­eignet wer­den, so dass die Pro­duk­­tion in Gang kommen kann. Nicht einmal im­materielle Güter sind von die­ser Regel ausgenom­men, denn auch sie benötigen Ressourcen und Pro­duktivkräfte, um sich materiali­sieren zu kön­nen. So­lange die Erde ge­nügend Ressourcen bereitstellte bzw. rekreierte, hielt sich das Problem impe­ria­ler, gewalttätiger, kriegerischer, allenfalls willkürlicher Aneignung noch in Grenzen, konnte der Mensch in der Illusion leben, er könne das Problem auf Dau­er lösen. Aber er hat es nicht ge­löst. Jetzt läuft ihm die Zeit davon, da er sich nicht in der Lage sieht oder gar unwillens ist, globale Ge­rechtigkeit her­zu­stel­­len. Nur auf distributive Gerechtigkeit fixiert, hat er die „na­tür­liche“ Un­ge­rech­tigkeit der Aneig­nung, imperialistisch und kapitalistisch, zemen­tiert. Die Kultur ist rück­schritt­lich geblieben, weil sie dem Ne­ga­tiven, der Na­tur nicht – was fortschrittlich ge­wesen wäre – ins An­ge­sicht schau­en konn­te. Vielmehr hat sie dieses Angesicht – im Schein effekti­ver Negation – zerschlagen.

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Musivische Texte – Absätze #17

Alle, nicht jeder. Kein Leben, individuell wie kollektiv, ist ohne den Tod möglich; das Leben ist Auf­schub des Todes, nicht, wie es Fanatiker wollen, umgekehrt. Den Tod zu ver­drän­gen, zu leben, als ob man nie sterben müsste, heißt, den Aufschub des Todes zu ne­gie­ren: Krieg zu führen gegen den Auf­schub und damit gegen sich selbst und die anderen oder, kosmisch gesehen, gegen die Erde. Gegen­wärtig ist allerdings das Leiden am Symp­tom dieser Ver­drängung nicht größer als der Ge­winn aus ihr. Im Gegenteil, der Zeit-, Ef­fi­zi­enz- und Freiheitsgewinn Einzelner gegenüber dem Ganzen (den man, miss­verständlich, Individualisierung nennt) scheint der­art groß, dass sich die Ar­gu­men­tati­on zu ver­kehren droht: Wenn ohnehin jeder sterben muss, hat je­der ein An­recht auf maxi­mal-in­ten­si­ves Le­ben, darf jeder alles fordern. Aber jeder ist nicht alle/s. Denn wenn jeder alles for­derte, ma­ximal-intensiv, konsumistisch leben wollte, stellte er seine miss­ver­standene Frei­heit über die aller ande­ren. Was, im Unterschied zur distributiven Ge­rech­tigkeit, absolute Ge­rech­tig­­keit ist17, scheint daher unter gegenwärtigen, globalen Be­dingungen im­mer we­niger klar. Die Beant­wor­tung der Frage wird auf den Sankt Nimmerleinstag auf­geschoben, das heißt: bis es zu spät ist.

17 Vgl. Charles Taylor, Wesen und Reichweite distributiver Gerechtigkeit, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individu­alismus, übers. v. H. Kocyba, Frankfurt/M. 1992, S. 145f-187, hier S. 164f.
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Musivische Texte – Absätze #16

Korrektiv. Leben wir heute, wie Groethuysen nahelegt, faktisch so, als ob wir nie sterben müss­ten, und gilt das, wie ich ergänzen möchte, nicht nur für den Einzelnen, sondern auch – und vor al­lem – für (kapitalistische) Ge­sell­schaften, dann widersetzt sich diesem histo­ri­schen Verdrängungsprozess eine philo­sophische Lebensweise, die vielleicht im ersten Mo­ment als unzeitgemäß, ja antiquiert er­schei­nen mag: sich der tödlichen End­gül­tig­keit mensch­li­cher Existenz inne zu werden, sich stets das eige­ne En­de, vor allem gegenwärtig: das unseres Planeten, der Grundlage unserer Kultur, vor Augen zu führen. Denn nur so kann jeder, so paradox es klingt, Wider­stand leisten ge­gen seine Vergänglich­keit: Er kon­frontiert sich mit dem, wovor er sich am meisten fürchtet. Indem er dem Negativen „ins Angesicht“ schaut, wird zwar das Negative nicht, wie noch Hegel es sich als „Zauberkraft“ erträumte, ins Sein „um­gekehrt“16 – eine effektive Negation ist unmöglich –, aber doch so distan­ziert, dass die Ausbeutung menschlicher Ver­gäng­lich­keit und die der Angst vor ihr blo­ckiert werden. Das verdrängte Nicht­sein, das jedem von uns droht, ist dann nichts mehr, das uns im Krieg gegen das Sein wieder­kehrt, sondern das im Aufschub sistiert wird.

16 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Band 3, Frankfurt/M. 1970, S. 36.
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Musivische Texte – Absätze #15

Idiotie. Die Philosophiewissenschaft ist heute vollständig involviert in das, was ich Idi­o­tie, genauer die Idio­tie der Be­sin­nungs­­losig­keit nennen würde, das heißt in einer für das Abendland charakteristi­schen hi­sto­­ri­schen Bewegung, in der die allmähliche Ver­drängung von Zeit und Tod, Vergänglichkeit und Sterb­lichkeit aus dem Leben und Denken der Men­schen zu etwas Selbstverständlichem, zu einer Norm ge­wor­den ist. Wie Bernhard Groet­huy­sen 1927 in seiner historischen Studie ‚Die Entstehung der bür­gerli­chen Welt- und Lebens­anschauung in Frank­reich‘ gezeigt hat, leben wir heute mehr als je so, als ob wir nie sterben müssten, und zwar sowohl als Einzel­ne als auch als Allgemein­heit: „Man lehnt, schreibt Groethuysen, „sozusagen die Problemstellung selbst ab (…), und wenn sie noch ins Be­wußt­sein [tritt], wird der neue“, sprich moderne „Mensch bestrebt sein, sie mög­lichst zurück­zu­drän­gen, um auch weiterhin das Leben bejahen zu können“15. Weil das Problem unlösbar scheint, wird es ver­schwie­gen, und angesichts der begrenzten Zeit des jeweiligen Lebens erscheint es als Zeit­ver­schwendung, sich damit zu beschäftigen.

15 Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Band 1: Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung, Frankfurt/M. 1978, S. 139.
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Musivische Texte – Absätze #14

Schweigen: eine Lösung? Von Kant stammt die prinzipielle methodische Idee neu­zeit­li­cher Wissen­schaft(en): sich keinen Pro­blemen zu widmen, die man nicht lösen, sich kei­ne Fragen zu stellen, die man nicht beantworten kann. Der frühe Wittgenstein hatte mit sei­nem Diktum „Was sich überhaupt sagen läßt, lässt sich klar sagen, und wovon man nicht reden kann, dar­über muss man schweigen“13, fast schon tautolo­gisch, dieses neu­zeit­li­che Prinzip auf die Spitze getrieben. Alles andere erklärte er, ebenso verein­fa­chend, zum Ge­gen­stand von Mystik: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das My­sti­sche.“14 Es ist dieser, fast schon manichäisch anmutende Dualismus: einer im ge­sell­schaft­li­chen Zentrum stehenden Effizienzlust am Problemlösen („das Gute“ = das Klare) und einer ins Exil getriebenen The­matisie­rung des scheinbar Unlösbaren, Nicht-Beant­wortbaren („das Böse“ = das Mystische), der auch heute noch unser Den­ken prägt. Aber was wäre denn eine Lösung? Was heißt es, dass ein Pro­blem unlösbar ist? Oder mit Bezug auf Wittgenstein: Was heißt hier Schweigen? Und gäbe es nicht gerade dazu noch Einiges zu sagen? Die Frage nach dem, was unbeantwortbar ist, ist offen­bar selber noch nicht be­ant­wor­tet, und das Problem, das diese Frage motiviert, selber noch ungelöst.

13 Ludwig Wittgenstein, Tractatus-logico-philosophicus, in: ders., Schriften 1, Frankfurt/M. 1963, S. 9.
14 Ebd., S. 82.
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Musivische Texte – Absätze #13

Symptomatisch. Was ist es, was sich im Ner­ven­zu­sam­men­bruch moderner Philosophie verdichtet? Wel­ches Symptom zeigt sich hier? Im Kern ist es die zunehmende Unfähig­keit der zur Wissenschaft mu­tierten Phi­lo­so­phie, sich der eigenen Seins­melancholie zu stel­len. Oder anders gesagt: die Unfähig­keit zu trauern, ohne sich indes dieser Unfä­higkeit be­wusst zu wer­den. Denn genau solches Bewusst­sein müsste philosophisches Denken heute daran einnern, woher es einmal kam: aus einer Me­di­tation der Ver­gäng­lichkeit und einer da­raus resultierenden Ahnung der Ver­geb­lichkeit allen menschlichen Tuns. Wie Irre, lo­gisch gesprochen: wie Idioten, führen wir heute – immer noch und manch­mal so­gar, mit friedlichen Mitteln – Krieg ge­gen­einan­der und gegen die Natur. Und wir be­kräf­­ti­gen, in­ten­si­­vie­­ren gerade so jenes Verge­hen, vor dem wir zu fliehen versuchen, statt uns unse­rer nega­ti­ven Frei­heit zu besinnen, Möglich­kei­ten, die sich uns bieten, ungenützt zu lassen und uns unserer zen­tralen Schwä­che zu stellen: auf die grundlegen­den Fragen unserer Existenz immer noch keine Ant­wor­ten gefunden zu haben.

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Musivische Texte – Absätze #12

Unreflektiert / reflektiert. Selbstverständlich / unselbstverständlich. Warum setzen sich die Phi­losophiewissenschaften und die Po­pu­lar­phi­lo­so­phie dem Dis­kurs der klassischen Philoso­phie nicht mehr aus? Und warum müssen sie es auch nicht? Das hat seinen Grund in dem, was ich einmal, vor Jah­ren, den Ner­venzusammenbruch der Phi­lo­so­phie genannt habe: Histo­risch hat die Philosophie ihre Dis­kurs­macht nach und nach an die Wissenschaften verloren, sich im Gegenzug selbst in eine Wis­sen­schaft, die Phi­lo­so­phie­wis­sen­schaft verwandelt und dabei verkannt, was der geschichtliche Pro­zess der re­fle­xi­ven Mo­der­ni­sie­rung nicht zu leisten vermag: das Alte, Re­flek­tierte aufzulösen, es gänz­lich durch das Neue, noch Unreflektierte zu ersetzen. Und systema­tisch hat sie ihre Dis­kurs­­macht durch ihre konsequente Selbstkritik – man könnte auch sagen: durch ihre ei­ge­ne Demontage – verloren, in­dem sie von Anfang an selbst schon reflexive Mo­der­ni­sie­rung betrieb. So machte sie das Selbstver­ständ­liche derart unselbstverständlich, dass sie ihren Reflexionskrampf am Ende – buchstäblich am Ende des letzten Jahrhunderts – nicht mehr auflösen konnte. Ihr Denken wurde ins Bodenlose ver­rückt. So wie generell das der Moderne.

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Musivische Texte – Absätze #11

„Unsere ganze Würde besteht (…) im Denken. Arbeiten wir also daran, gut zu denken. Das ist das Prinzip der Moral.“ (Blaise Pascal, Pensées, Fr. 347 bzw. 207)

Eine Differenz. Worin besteht die Aufgabe von Philosophie heute? Sie besteht – de­skrip­tiv, epi­ste­misch – im Auf­weis und in der Klärung von Ideen; und sie besteht – nor­ma­tiv, ethisch – im Aufweis und in der Klä­rung von Idealen. Dabei bin ich mir bewusst, dass beide Be­griffe, der der Idee und der des Ideals, des epistemischen Seins und des ethischen Sollens, für einen zeitgenössischen Leser ei­gentümlich „verstaubt“, alt­modisch da­her­kom­men können. Aber diesen Preis – den eines Eindrucks, eines Scheins – muss Phi­losophie heute zahlen, will sie sich nicht im un­end­lichen Klein-Klein ei­ner aka­de­mi­schen Dis­ziplin oder in den Oberfläch­lich­keiten einer sich in Vi­deo­streams ar­ti­kulierenden Mei­nungs-Philoso­phie verlieren. Denn in der Differenz von Idee/n und Ideal/en – einer sig­nifi­kan­ten / Signifi­kanten-Differenz – findet sie An­schluss an den Diskurs der klas­si­schen Philo­so­phie, den die Philo­sophiewis­senschaften und die Popularphilosophie ge­gen­wär­tig nicht mehr finden, u. z. nicht ganz zu unrecht nicht mehr fin­den.

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