Erster Teil1
Begriffswort ‚Anthropozän‘. ‚Das Anthropozän‘ beschreibt aus philosophischer Sicht – und ich betone die Kennzeichnung dieser Sicht als philosophisch – einen menschheitsgeschichtlichen Zustand, in dem der Mensch in allem, was ihm begegnet, am Ende immer nur auf sich selbst trifft: entweder in Form einer dauerhaften Einprägung seines Tuns in die materielle Welt, die dadurch zu der kulturellen Welt wird, in der er lebt, oder aber in Form dauerhafter Spuren dieses Tuns in dem, was er die natürliche Welt nennt, die er zunehmend okkupiert und so – hinter Kultur und Zivilisation – zum Verschwinden bringt.
Verlust des Außen. Für mich als Philosophen wirft das Begriffswort ‚Anthropozän‘ die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur auf. Und es beantwortet für mich diese Frage in der Weise, dass wir heute von einer Natur im eigentlichen Sinne – wir reden hier manchmal auch, durchaus adäquat, von einer ‚unberührten Natur‘ – nicht mehr sprechen können: Es gibt – diesseits der kosmologischen, lebensfeindlichen Exosphäre der Erde – nichts wahrhaft Anderes, kein Außen der menschlichen Bezüge mehr, und wenn es ein solches Außen gibt, ist es gerade dabei zu verschwinden oder in Kultur über- bzw. unterzugehen.
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Normative Komponente. Im Gegensatz zum strikt geologisch-metereologischen Begriff des Holozäns ist das ‚Anthropozän‘ nicht nur ein naturwissenschaftlicher, sondern auch ein kulturphilosophischer Begriff mit einer unverkennbar normativen Komponente. Damit meine ich: Das Anthropozän ist, anders als das Holozän, von seinem – dystopischen – Ende her gedacht, nicht von seinem Anfang. Das Begriffswort ist weniger eine retroaktive als vielmehr eine proaktive Kennzeichnung, eine, die uns daran erinnern soll, was diese Erde einst gewesen sein wird: eine von Menschen gestaltete, genauer: entstellte, verunstaltete Welt. Darin liegt ihr kritischer, weil ökologieethischer Kern.
Restriktive Verantwortlichkeit. Die Botschaft des „Anthropozäns“ lautet: Jahrhundertelang sahen die Menschen, wenn sie von ihrer kulturellen und zivilisatorischen Höhe aus in die Natur schauten, nur Niederungen, Abgründe, abgrundtief Fremdes. Aber mit der empirisch-wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftlichen Wende seit dem 17. und 18. Jahrhundert wurde die Natur uns, kraft unserer technologischen Herrschaft über sie, immer vertrauter, so dass sie nun am Ende, im 20. und v.a. im 21. Jahrhundert, nur noch unser eigenes Gesicht zeigt: als Fratze. Wir sind, erkennen wir auf einmal, nicht nur allein, wir sind für das, was wir immer noch ‚die Natur‘ nennen, auch allein verantwortlich.
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Utopie der Aufklärung. Man könnte zunächst fragen: Wo liegt das Problem, wenn der Mensch in der Natur auf sich selbst trifft, sich selbst in ihr wiedererkennt? Ist und war das nicht die Utopie der Aufklärung gewesen, die Utopie einer aufgeklärten Welt, in der der Mensch, unbehelligt durch die unberechenbaren Kräfte der Natur, in Sicherheit, Frieden und Wohlstand leben kann? Theoretisch hätte der Mensch eine solche Utopie realisieren können, und die Anzeichen dafür standen, wenn wir den philosophischen Konzepten von Descartes über Kant zu Marx bis in das letzte Jahrhundert hinein Glauben schenken wollen, gar nicht so schlecht: Befriedung der Menschheit durch wissenschaftlich und technologisch angeleitete Beherrschung der Natur – das schien ein sinnvolles und zukunftsweisendes Konzept zu sein.
Umschlag in Dystopie. Aber das Gesicht des Menschen in der Natur hat sich mittlerweile zu einer Fratze verzogen, weil die Utopie von Anfang an von einer unfairen Konstellation ausging, in gewisser Weise selbst schon – kleingeschrieben – „anthropozän“ war. Denn die Natur, die Erde und die nicht-menschlichen Kreaturen hatten in dieser für Menschen und nur für Menschen entworfenen Utopie kein Mitspracherecht. Sie wurden entweder als Instrumente des Fortschritts oder wahlweise als Ressourcenspender und Müllplatzhalter verkannt, nicht jedoch als Nutznießer des Fortschritts mit in den Prozess einbezogen. Die Folgen davon sehen wir heute: dramatische Veränderungen des Klimas mit wachsenden Wüsten und zunehmenden Überschwemmungen gleichermaßen, weltweite Vergiftungen von Böden, Wasser und Luft, globale Verteilungskämpfe und Kriege um knapper werdende Ressourcen usw. usf. Die Welt, unsere „anthropozäne“ Welt sieht in ihren Abgrund.
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Verpflichtung zur Kritik. Wenn wir vom Anthropozän sprechen, sind wir angesichts der normativen Konnotationen des Begriffs, sobald wir darüber arbeiten, schreiben oder sprechen, in einen kritischen Diskurs eingebunden, in ihm befangen oder auch gefangen, ob wir es nun wollen oder nicht. Wir können uns einerseits, wenn wir skeptisch sind, von der moralischen Wucht dieses Begriffes abwenden und diejenigen kritisieren, die in einen Alarmismus verfallen, den wir als kontraproduktiv empfinden mögen. Aber wir können uns von der Wucht dieses Begriffes auch tragen lassen und uns, unsererseits kritisch, dem Vorwurf des Alarmismus stellen, weil wir die Bedrohung, die im Begriffswort ‚Anthropozän‘ mitschwingt, ernst nehmen wollen.
Kommunikativer Appell. Was wir auch tun, wir können uns zum Anthropozän als Künstler, Literaten, Philosophen usw. nicht nicht verhalten. Denn wenn wir uns dazu nicht verhalten, so verhalten wir uns gerade doch dazu – eben weil wir Menschen sind und als solche im Wort – ανθρωποι / anthropoi – direkt angesprochen werden. Das Begriffswort ‚Anthropozän‘ ist also nicht irgendeines, es ist – einmal als das verstanden, was es objektiv bedeutet – ein kommunikativer Apell an jedermann und jede Frau, unüberhörbar, unübersehbar, unausweichbar. Das Faktum, das dieses Wort bezeichnet, lässt sich durch Sprache und Sprechen nicht aus der Welt schaffen. Und sollte es doch jemand versuchen wollen, so wäre es gerade unsere Aufgabe als Kulturschaffende der sprachlichen Lüge, die darin liegt, entgegenzutreten. Denn die naturschaffenden Kräfte können es nicht – sie sind sprachlos, stumm und stellen insofern keine eigene Stimme im Chor der Kritiker dar.
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Möglichkeit eines anderen Diskurses. Ich sehe unter vielen Konsequenzen des Anthropozäns, die wir thematisieren könnten, zwei besonders hervorstechende: Die erste ist die, die ich auch an mir selbst als Kulturschaffendem wahrnehme: Durch die im Wort ‚Anthropozän‘ mitschwingende Dramatik fühle ich mich in meiner Arbeit aufgestört, vielleicht produktiv gestört, aber in jedem Fall nicht beruhigt oder gar bestätigt. Denn das Wort führt einen neuen Signifikanten in den kulturellen Diskurs ein, der diesen, will er aktuell sein, grundlegend verändert: Wie weit, könnte die Frage lauten, bin ich selbst im Anthropozän befangen, halte ich am gewohnten kulturellen Diskurs fest? Und wie sähe ein anderer, nicht „anthropozäner“ – gegen die Ursachen und die Folgen des Anthropozäns widerständiger – Diskurs aus? Gibt es einen solchen überhaupt? Muss er nicht erst etabliert werden?
Die Gefahr der Verkennung. Und die zweite Konsequenz ist die, die aus der objektiven Bestandsaufnahme des Anthropozäns resultiert: die eines notwendigen Engagements, einer engagierten Kunst, die sich dem Problem, das im ‚Anthropozän‘ konzentriert ist, stellt. Das heißt, der umstrittene Begriff muss im künstlerischen Prozess Bild werden; er muss in ihm jene Anschaulichkeit erhalten, die er außerhalb der Kunst wohl nur durch die Erfahrung der konkreten Folgen des Anthropozäns gewinnen kann. Hier, in der Kulturerkenntnis, gilt, was auch in der Naturerkenntnis schon lange gilt: Zwar wäre das Bild, das des Anthropozäns, ohne den ihm korrespondierenden Begriff blind, aber auch der Begriff ohne das ihm korrespondierende Bild leer. Genau in dieser Leere liegt die Gefahr seiner Verkennung, einer Verkennung, die uns glauben lässt: im Anthropozän ginge es um alles andere, nur nicht um uns selbst.
Zweiter Teil2
Definition. ‚Das Anthropozän‘ ist dasjenige Zeitalter der Erdgeschichte, in dem der Mensch zur alles beherrschenden Spezies sowohl über die belebte als auch über die unbelebte Natur geworden ist, und zwar so, dass die durch den Menschen initiierten Veränderungen unabänderlich geworden sind. Das gilt nicht nur für den Ressourcenabbau, den Artenverlust, das Abschmelzen der Gletscher oder generell für die Folgen des Klimawandels und für diesen selbst. Es gilt auch für alle die Fälle, in denen der Mensch in der Lage ist, entstandene Folgen seines Tuns in der Natur wieder auszugleichen, z.B. durch das Wiederanpflanzen von Wäldern, durch die Einrichtung von Naturparks und Ähnliches. Denn auch für dieses Tun des Menschen gilt die oben formulierte Definition.
Zwei Phasen. Insgesamt kann man das Anthropozän, wenn auch etwas gezwungen, in zwei Phasen einteilen: in eine erste Phase, in der der Mensch zur beherrschenden Spezies über die gesamte äußere Natur wird – diese Phase ist bereits weitgehend abgeschlossen – und in eine zweite Phase, in der der Mensch zur beherrschenden Spezies auch über die innere, d.h. über seine eigene Natur wird – diese Phase, die weitgehend KI-betrieben ist, hat soeben erst begonnen. Wenn sie abgeschlossen sein wird, möglicherweise erst in ein / zwei Jahrhunderten (falls die Menschheit, die dann eine posthumanistische sein wird, bis dahin überlebt), wird auch das Anthropozän beendet sein und werden wir eventuell von so etwas wie einem „Robotozän“ oder dergleichen sprechen.
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Anthropologische Folgen. Aus philosophischer Sicht hängt die Beantwortung der Frage, inwiefern KI die Realität verändert bzw. erweitert, vom Begriff der Realität ab, den man zugrundelegt. Wenn man von so etwas wie der ‚menschlichen Realität‘ sprechen kann – zu der die Kultur des Menschen im Gegensatz zur Natur wesentlich gehört –, so sind die Veränderungen schon heute unverkennbar. Was der Mensch ist und damit unsere gesamte Anthropologie müssen wir unter digitalen bzw. KI-Aspekten völlig neu denken (genetisches und elektronisches Enhancement, Einsatz von KI in unserem Alltag, Rückwirkungen digitaler Kopplungen auf unser neurologisches Setting etc.). Und angesichts möglicher Mensch-Maschine-Kopplungen wird man hier sicherlich – aber ich denke, das ist noch viel zu wenig gesagt – von einer erweiterten Realität sprechen können.
Auf dem Weg zur Post- oder Transhumanität. Anders sieht es dagegen mit der so genannten ‚natürlichen Realität‘ aus. Diese ist, verstanden als äußere Realität, signifikanterweise von KI (im engeren Sinne) gar nicht betroffen, da alle KI eine Kopie menschlicher Intelligenz sein will und meines Wissens von „natürlicher Intelligenz“ bei ihrer Produktion gar nicht ausgegangen wird. Sie ist im Anthropozän insofern deren zweite Phase, als der Mensch mit ihr nicht nur die Herrschaft über die äußere, sondern auch über die innere, d. h. über seine eigene Natur gewinnt. Er kann sie und damit auch sich selbst nach seinem eigenen Willen modellieren und damit so etwas wie eine Post- oder Transhumanität schaffen.
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Freiheit der Kunst. Wenn es so etwas wie die Kunst überhaupt (noch) gibt, würde ich annehmen, dass sie mit dem Anthropozän genau so oder zumindest auf ähnliche Weise umgeht, wie sie mit allen historischen Besonderheiten und Eigentümlichkeiten des Menschen umgeht: Sie stellt sie dar oder greift sie in ihren Darstellungen auf, sie gestaltet sie oder macht sie zum Grund ihrer Gestaltung. – Indem sie das tut, kritisiert sie ggf. Merkmale und Folgen des Anthropozäns; aber ggf. affirmiert sie sie auch, wo sie sie affirmieren kann. Die Kunst besaß schon immer diese beiden Alternativen (und alle Graustufen dazwischen); und sie wird sich sicherlich nicht auf eine einzige Alternative festlegen lassen. – Schließlich kann sie aber auch auf beide Alternativen verzichten und sich gar nicht mit dem Anthropozän auseinandersetzen wollen (ob es ihr gelingt, ist eine andere Frage). Die Freiheit der Kunst ist hier, wie schon immer, weitgehend unbegrenzt.
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Autorschaft: umstrittenes Konstrukt. In kulturtheoretischer Hinsicht war Autorschaft schon immer ein umstrittener Begriff, bzw. Autorschaft konnte nie streng auf ein einzelnes Individuum (den Autor) begrenzt werden. Denn, um es sehr allgemein zu formulieren, der Prozess oder Fortschritt der Kultur ist ein menschheitsgeschichtlich-kollektiver, kein individueller. Jede individuelle Autorschaft, geht hier, auch wenn sie plausibel gemacht werden kann, stets auf eine Fülle von Autoren zurück, die die individuelle Autorschaft mehr oder minder stark relativieren. Insofern ist die Infragestellung von Autorschaft durch die heutigen digitalen Möglichkeiten, Stichwort „ChatGPT“, nur die Sichtbarmachung dessen, was kulturtheoretisch schon immer gegolten hat: Es gibt kein geistiges Eigentum.
Autorschaft: unumstrittenes Konstrukt. In rechtlicher Hinsicht darf Autorschaft jedoch nicht umstritten sein, denn wenn das geschieht, sind bestimmte Eigentumsverhältnisse, die für das kapitalistische Funktionieren unserer Wirtschaft essenziell sind, in Frage gestellt. Deshalb wird es, auch und gerade unter digitalen Voraussetzungen, immer wieder Bestrebungen geben, Bedingungen von Autorschaft, wenn irgend möglich, festzuschreiben. Und diese Bestrebungen können gewissermaßen gar nicht misslingen, da sie einer systemischen – und von den meisten „Autoren“ auch gewollten – Logik bzw. immanenten Notwendigkeit unseres Wirtschaftssystems unterliegen.
Autorschaft: sinnvolles Konstrukt. Etwas anderes ist die Frage, ob denn Autorschaft, angesichts digitaler Möglichkeiten wie ChatGPT, Neuroflash, Chatsonic usw., überhaupt noch ein sinnvolles individuelles Konstrukt sein kann. Meine Antwort darauf wäre: ja, insofern Autorschaft nicht nur auf Fragen des Wissens bzw. auf Inhalte des Wissens, auf sogenannte ‚Informationen‘ beschränkt werden kann, sondern auf Formen und Stile von Gestaltung, auf kontextuelle Kohärenz und Wiedererkennbarkeit bzw. intendierte Inkohärenz und Nichtwiedererkennbarkeit und vergleichbare Aspekte ausgedehnt werden sollte. In diesem Fall könnte oder müsste man m. E. streng zwischen Autorschaft und Urheberschaft unterscheiden: ChatGPT z.B. mag am Ende der Urheber gewisser Inhalte sein, mit denen ich (als Autor) arbeite, aber ich bin mir dabei bewusst, dass deren Autorschaft der Urheberschaft von ChatGPT noch weit vorausliegt.
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Blick in die Zukunft. Ich habe es oben schon angedeutet: Die Zukunft der Menschheit wird, falls es für sie denn überhaupt eine Zukunft geben wird, vermutlich eine transhumanistische sein, eine Zukunft, die – ich spekuliere hier – in so etwas wie in ein „Robotozän“ münden könnte – und damit in eine Form der Kunst, die sich, denke ich, unseren gegenwärtigen Vorstellungen und Visionen noch entzieht. Denn bis es so weit ist, werden wahrscheinlich noch ein / zwei Jahrhunderte ins Land gehen, so dass ich für die kommenden Jahrzehnte keine wesentlichen Veränderungen (in) der Kunst erwarte.
Dystopische Annahme. Ob die transhumanistische Zukunft eine utopische oder dystopische Zukunft sein wird, ist schwer zu sagen. Angesichts vieler anderer Probleme, die die Menschheit immer noch nicht gelöst hat und wie ein Bergmassiv vor sich hinschiebt (die scheinbar unausrottbare Kriegsbereitschaft des Menschen, das nicht enden wollende Faktum von Hunger und Elend auf der Welt, die ideologische Kakophonie, die jede universalistische Vision unmöglich macht), neige ich eher zu einer dystopischen Annahme.
Persistenz der Menschheitsprobleme. An dieser Dystopie wird m. E. auch eine zukünftige Weltraumbesiedelung nichts ändern, da mit dieser allein keine qualitative Veränderung der Ursachen und Folgen des Anthropozäns verbunden sein wird. Der Mensch macht dann dort im Weltraum einfach so weiter wie zuvor. Probleme, die er hier auf diesem Globus nicht ändern wird, wird er mit Sicherheit auch irgendwo in der Ferne des Weltraums nicht ändern. Das einzige, was er sich damit verschaffen könnte, ist mehr Zeit – Zeit zur Lösung eben dieser Probleme.
1 Rede-/Text-Beitrag anlässlich der Vernissage der Ausstellung „Erweiterte Realitäten“ im Verein Berliner Künstler e.V. (https://vbk-art.de/) am 3.11.2023
2 Rede-/Text-Beitrag anlässlich der Finissage der Ausstellung „Erweiterte Realitäten“ im Verein Berliner Künstler e.V. (https://vbk-art.de/) am 26.11.2023.