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Der Puls der Zeit – Das Herz der Texte schlägt anders, widerständiger als das Herz der Menschen; es pulsiert in einer anderen Zeit – langsamer, bedächtiger, dem Tod ferner. Mancher unserer Zeit, der Leser, der Vieles liest, mag sich wundern. Doch manchmal trägt ein einziger Absatz, ein Pulsschlag durch ein ganzes Leben.
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Neue Originalität – „Nichts nimmt ein gutes Ende für den, der nur wartet.“ Einige Verschreibungen, wie die von Tolstoi, lassen sich nicht mehr rekonstruieren, weil man abgewartet hat, sich das Original zu notieren.
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Keine halben Sachen – Wenn das Leben nach Joseph Roth ein elender Abklatsch schlechter Romane ist, dann ist die Erfüllung der Aufgabe, gute Romane zu schreiben, erst die halbe Erfüllung.
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Monolog / Polylog – Texte richten sich stets an den Anderen. Obwohl fast jeder es tut, schreibt doch keiner für sich. Niemand ist seine Zielgruppe.
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Was habe ich noch mal gelesen? – Philosophische Texte sind Anlässe des Denkens – und wollen nicht mehr sein. Weil sie im eigenen Denken aufgehen, werden sie dort auch vergessen.
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Kluft – Man setze die Klarheit und Deutlichkeit Descartes‘ gegen die Unklarheit und Undeutlichkeit seiner philosophiewissenschaftlichen Text-Ausleger. Dann öffnet sich die Kluft: zwischen dem Text-Genie und den Text-Stümpern.
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Wi(e)derlesen – Die wahre Figur des philosophischen Lesens ist die von Vor- und Rückkehr. Vorkehr, das heißt Text-Übersprung, Rückkehr -Rücksprung. Was fehlt, ist der Text-Absprung, der in Vor- und Rückkehr schwer zu finden ist – zum Schreiben.
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Die Kathedrale der Texte – Hegel war ein weiser Mann. Er kannte, im Gegensatz zu dem, was seine theoretischen Ausleger sagen, den Widerspruch von Theorie und Praxis. Er baute sich, wie Kierkegaard irgendwo anmerkt, ein Schloss, aber wohnte, schön bescheiden, im Gartenhaus nebenan. Rudy Harper kommentiert das zwar nicht, aber schreibt hellsichtig: “A mouse, living in a cathedral, is still a mouse.”
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Eine Form des Widerstands – Manche lesen, um die Zeit zu überbrücken, manche, um die Brücke der Zeit einstürzen zu sehen.
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Bewegte Stille – In Texten kommt das Denken zum Stillstand – und so dem eigenen Zeitkern auf die Spur.