Wie bereits in meinem vorigen Beitrag Vor zehn Jahren (Jubiläum I) vom 12.5. angekündigt, veröffentliche ich hier in meinem Blog nun auch den Vortrag, den ich vor einer Woche zum zwanzigjährigen Jubiläum der von mir 1994 mitbegründeten Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche e.V. (GPWP) gehalten habe. Ich habe diesem Vortrag nachträglich den – für professionelle Ohren – sicherlich etwas provokanten Titel Ein Höchstmaß an negativer Freiheit gegeben, um hier nebenbei auf einen Umstand hinzuweisen, der mir schon während der Jubiläumstagung unangenehm aufgefallen war:
Die negative Freiheit hat heute offenbar gerade unter Philosophen einen schweren Stand. In jedem Fall muss die Gefahr, die offenbar von ihr ausgeht – das Negative –, durch ihr dialektisches Pendant, die positive Freiheit, ausbalanciert werden, und zwar offenbar bereits – jenseits der biographischen und historischen Notwendigkeiten – gegen die auf der Hand liegende Einsicht, dass hier ein Gleichgewicht, eine Balance überhaupt nicht zu haben ist. Denn was wäre die positive Freiheit ohne die negative? Während die negative gut und gerne ohne die positive auskommen kann, ist die positive ohne die negative noch nicht einmal zu denken.
Aber das schert offenbar viele noch stets auf Ausgleich bedachte Diskursprofis – Philosophiewissenschaftler ihres Zeichens – in keiner Weise. Frisch, fromm, fröhlich und positiv frei schwadronieren sie mit ihren anämisch gewordenen Konzepten, wie eh und je, über die Realitäten hinweg und zitieren dabei immer wieder gerne das berühmte Mesotes-Prinzip des Aristoteles – die Vorstellung vom guten Leben als einer mittleren Lebensform –, ohne nur jemals einen Gedanken daran zu verschwenden, dass das, was die Grundlage dieses Prinzips ist, nämlich die Freiheit, diesem Prinzip offenbar selbst nicht mehr unterworfen werden kann.
Genau das Gegenteil ist der Fall: Es ist überhaupt erst das systemische Übergewicht der negativen über die positive Freiheit, das es einem Menschen erlaubt, eine mittlere Lebensform zu wählen – weil er sie eben auch nicht wählen kann. Oder anders formuliert: Wie sollte ich denn zwischen positiver und negativer Freiheit ein gutes Gleichgewicht herstellen können, wenn es dazu meinerseits wieder einer negativen und positiven Freiheit bedürfte, deren Gleichgewicht erst herzustellen wäre usw. usf.? Es ist die uns von Natur gegebene negative Freiheit, die es uns ermöglicht, ein ethisches Gleichgewicht herzustellen oder jede andere nur denkbare Ethik zu entwerfen, während die positive an das Gegebene einer Kultur gekettet ist, die unsere Denk-Möglichkeiten schon vorab, vor aller Autonomie, begrenzt.
Kurz, so wie der Kultur die Natur zugrunde liegt, so liegt der Freiheit die Unfreiheit zugrunde. So wie wir nicht wählen können, geboren zu werden, so können wir auch nicht wählen, frei zu sein – was ich einmal – in einem GPWP-Band – folgendermaßen formuliert habe: „Wir sind empirisch zur Freiheit verurteilt, ob sie nun eine Illusion ist oder nicht. Das heißt, wir sind gehirnphysiologisch dazu ‚determiniert‘, freie Entscheidungen zu treffen. Man könnte auch sagen: Es liegt in der Natur unseres Gehirns, sich frei entscheiden zu können. Das und nichts anderes besagt die These, dass wir empirisch zur Freiheit verurteilt sind.“ (Metaphysischer Determinismus und naturgeschichtliche Freiheit, in: Willensfreiheit – eine Illusion?, hrsg. v. M. Heinze u.a., Lengerich / Berlin 2006, S. 63ff, hier S. 69).
Hier kommen dann die soeben schon kurz angesprochenen biographischen und historischen Notwendigkeiten ins Spiel (denn jedes Gehirn ist erst das, was es ist, durch seine Geschichte), Notwendigkeiten, die die Anthropologen und Phänomenologen, Hermeneutiker und Textexegeten, Sprach- und Daseinsanalytiker etc. immer wieder gerne vergessen und die wir nur dadurch relativieren können, dass wir uns unserer negativen Freiheit erinnern, statt sie zu verdrängen, uns „losreißen“ (Sartre) von diesen Notwendigkeiten und dadurch Raum – Freiraum – schaffen für Veränderungen, d.h. für neue biographische und historische Kontexte, deren Zwänge wir immer wieder neu transzendieren müssen.
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Ein Höchstmaß an negativer Freiheit. Vortrag anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der GPWP am 9. Mai 2014
Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, hier heute vor Ihnen zu stehen, um Ihnen als Mitglied des Vorstandes der „Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche e.V.“ einen kurzen Einblick in die Geschichte dieser Gesellschaft, kurz der GPWP, geben zu können. Das ist insofern eine Ehre, als auch eine Reihe anderer Personen aus dem Kreis der aktiven Mitglieder der Gesellschaft, die am heutigen Tag hier sind, diese Aufgabe hätten übernehmen können.
Allen voran wären hier Martin Heinze und Isolde Eckle zu nennen, die wohl damals, vor mehr als zwanzig Jahren, die allerersten gewesen sein dürften, die den Gedanken einer Gesellschaftsgründung gefasst hatten, oder auch Kai Vogeley und Klaus Leferink, die, ähnlich wie ich, etwas später am langwierigen, mehrere Monate dauernden Prozess der Konstitution der Gesellschaft organisatorisch und programmatisch mitgewirkt haben.
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Wenn ich eine einfache Formel finden wollte, die die GPWP im Verlauf ihrer nunmehr 20-jährigen Geschichte charakterisieren könnte, so würde ich sagen: klein, aber fein – die GPWP ist klein, aber sie ist auch fein. Man kann m. E. nicht sagen, dass diese Entwicklung: klein zu bleiben, aber fein zu werden, von den Gründungsmitgliedern ursprünglich so intendiert war, falls man am Anfang überhaupt von langfristigen Zielen – außer vielleicht, was einige inhaltliche Vorstellungen anbelangt – sprechen konnte.
Es waren vielmehr gerade diese inhaltlichen, dann in die Programmatik der GPWP eingegangenen Vorstellungen, die den Kreis der Interessenten von Anfang recht überschaubar gehalten und es von daher auch eher unwahrscheinlich gemacht hatten, dass sich die GPWP zu einer größeren, alle möglichen Kreise integrierenden Fachgesellschaft entwickeln würde. Ich möchte zunächst diese beiden Aspekte ein wenig vertiefen:
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Erstens, die GPWP ist klein. Sie ist nie über eine gewisse Zahl von Mitgliedern hinausgewachsen und hat insofern auch nie die Bedeutung erlangen können, wie sie sich andere Fachgesellschaften, etwa die DGPhil (die ‚Deutsche Gesellschaft für Philosophie‘) oder die DGPPN (die ‚Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde‘) erworben haben. Sie hat vielmehr eine schon in ihrem Titel bezeichnete Nische besetzt gehalten – über die ich gleich noch etwas ausführlicher sprechen werde –, die ihr eine gewisse Dauer garantierte, die aber eben auch eine Nische geblieben ist, selbst wenn sich vielleicht der eine oder andere anfänglich etwas anderes erhofft hatte.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht auf das Programm der Gesellschaft eingehen, das jeder nachlesen kann und in dem dieses Nischendasein einen gewissen Reflex gefunden hat (vgl. Psyche im Streit der Theorien, Würzburg 1996, 11ff), sondern einen Aspekt hervorheben, der im Verlauf des 20-jährigen Bestehens der GPWP immer mal wieder, aber m. E. viel zu selten thematisiert wurde: die marginale Bedeutung, die die Philosophie für die Psychiatrie heute noch hat, bzw. der Bedeutungsverlust, der die Philosophie der Psychiatrie, also z.B. die phänomenologische, die daseinsanalytische oder anthropologische Psychiatrie seit einigen Jahrzehnten kennzeichnet.
Die GPWP hat diesen Bedeutungsverlust m.E. nie nennenswert kompensieren können, auch wenn es eine Zeitlang, v.a. in der Zeit zwischen 2005 und 2008, in der sie sich in die Diskussionen um die so genannten ‚Neurowissenschaften‘ engagierte, so schien, als ob sie daran mithelfen könnte, diesen Trend umzukehren. In diese Zeit fiel auch die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der DGPPN, die sich in der Veröffentlichung dreier gemeinsamer Sammelbände niederschlug (Willensfreiheit – eine Illusion?, Lengerich/Berlin 2006; Subjektivität und Gehirn, Lengerich/Berlin 2007 und Psyche zwischen Natur und Kultur, Lengerich/Berlin 2008), die aber auch die Gefahr mit sich brachte, dass die philosophischen Akzente unter der Dominanz der psychiatrischen Themen zu kurz kamen.
Als ich vor zehn Jahren – zum zehnjährigen Jubiläum der Gesellschaft – einen kleinen Vortrag hielt, der den ironischen Titel trug ‚Die Philosophie am Rande des Nervenzusammenbruchs ‘ (vgl. meinen vorigen Beitrag Vor zehn Jahren (Jubiläum I) vom 12.5.), gab es unter den Zuhörern viele, die mir zu erkennen gaben, dass sie meine eher pessimistische Analyse teilten. Von anderen wiederum weiß ich, dass sie die Sache – ob nun ironisch oder mit bitterem Ernst vorgetragen – nicht so dramatisch sahen und sehen. Interessanterweise sind das aber in der Mehrzahl gerade nicht die Philosophen in unserer Gesellschaft, sondern die Psychiater, so dass hier also ein gewisses Muster zu erkennen ist, das schon zu weiteren Diskussionen in der GPWP geführt hat und auch weiterhin führen wird.
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Die GPWP ist aber nicht nur klein, sie ist auch fein. Ihr Nischendasein hat ihr nicht nur eine gewisse Dauer, sie hat ihr auch eine gewisse Exklusivität garantiert. Gerade weil der Bedeutungsverlust der Philosophie, sowohl gesamtgesellschaftlich als auch im Verhältnis zur Psychiatrie, so eklatante Züge angenommen hat, gab es neben dem subjektiven Bedürfnis und dem objektiven Bedarf an philosophischen Fragestellungen, dem wir uns weder entziehen konnten noch wollten, immer auch eine große – sowohl negative als auch positive – Freiheit, solches Bedürfnis und solchen Bedarf zu stillen. Ich werde hierzu gleich noch ein paar Worte sagen. Zunächst aber einige kurze Hinweise auf die historische und die systematische Dimension, in der wir diese unsere Freiheit genutzt haben.
Zum einen haben wir uns bemüht, an die Geschichte des Dialogs zwischen Philosophie und Psychiatrie nicht über ihre oft konservativen – bzw. heute von Konservativen vertretenen – Vertreter anzuschließen wie z.B. Viktor Emil v. Gebsattel, Ludwig Binswanger oder, noch deutlicher, Medard Boss, sondern über ihren progressiveren, selbstkritischeren Part, der uns v.a. durch Person und Werk Wolfgang Blankenburgs repräsentiert schien. Ihm, der noch zu Lebzeiten Ehrenmitglied unserer Gesellschaft geworden war, haben wir uns besonders verpflichtet gefühlt. Martin Heinze hat 2007 in einem Sonderband der Jahrbuchreihe der GPWP ausgewählte Aufsätze Blankenburgs unter dem Titel ‚Psychopathologie des Unscheinbaren‘ herausgegeben. Und 2012 ist es ganz wesentlich durch Initiative und Mitarbeit der GPWP gelungen, im Parodos Verlag Blankenburgs große und bedeutende Studie ‚Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit‘ wieder zu veröffentlichen.
Andererseits haben wir uns in der GPWP aber auch in systematischer Weise bemüht, den Ort der Philosophie nicht nur nach dem üblichen, v.a. in der analytischen Philosophie weit verbreiteten Deutungs-Schema von Verfügungs– und Orientierungswissen, von hard und soft science, von techies und fuzzies zu bestimmen, sondern neben diesen eher formalen auch inhaltliche, konzeptionelle Gesichtspunkte einzubringen. Wenn man nämlich heute von Philosophen verlangt, sie mögen die Entwicklungen in den einzelnen Fachwissenschaften begrifflich moderieren und kritisch begleiten, so ist dies unserer Auffassung nach definitiv zu wenig, um die Philosophie aus ihrem Bedeutungsverlust wieder herauszuführen. Die Forderung nach Moderation und Modulation zementiert diesen Verlust vielmehr: sie macht die Philosophie zur ancilla scientiae, zur Magd der Wissenschaft.
Wenn aber, wie Martin Heinze und ich es einmal im Anschluss an Wolfgang Blankenburg formuliert haben, Philosophen sich in ihrer Grundhaltung gerade zur Infragestellung natürlicher Selbstverständlichkeiten aufgerufen fühlen, ja, diese Infragestellung ausdrücklich praktizieren (vgl. Philosophie in der Psychiatrie, Der Nervenarzt, Bd. 77, H. 3, 346ff, hier 348), so ist Philosophie mehr als stützende und hie und da Orientierung bietende Begleitmusik. Sie ist intransigente Kritik, Destruktion jeder Gewissheit. Und damit ist sie zugleich näher an der Psychiatrie als sich viele in ihren Elfenbeintürmen eingemauerten Philosophen heute noch ausmalen können. Sie ist in einer auf Normalität und Positivität geeichten Gesellschaft selbst ein kleiner, aber feiner Wahn, eine psychisches – ich will nicht sagen psychiatrisches – Symptom, das durchaus mit einem gewissen Leiden verbunden ist: mit dem Leiden an jeder Form von prosperierender Gesundheit in einer von Krankheit gezeichneten Welt.
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Als wir im Sinne dieses – hier bewusst überzeichneten – Selbstverständnisses 1994 starteten, gab es, wenn ich mich recht entsinne, drei sehr allgemeine, aus der Programmatik unseres Gründungsaktes abgeleitete Intentionen: Wir wollten zunächst die gemeinsame Arbeit an Problemen und Texten der philosophisch-psychiatrischen, philosophisch-psychoanalytischen und philosophisch-psychologischen Tradition vorantreiben. Wir wollten sodann unsere individuellen und kollektiven Arbeitsergebnisse mit denen anderer Autoren und Forschergruppen auf Tagungen und Kongressen präsentieren und diskutieren. Und wir wollten schließlich diese Diskussionen in Sammelbänden – die wir ursprünglich als ‚Jahrbücher‘ bezeichneten – dokumentieren. Auf all diesen Feldern haben wir, im kleinen Rahmen zwar, aber mit einer, wenn ich das so sagen darf, erstaunlichen Kontinuität gearbeitet:
So ist es uns gelungen, sowohl selbst regelmäßig, nämlich im Schnitt alle zwei Jahre Kongresse zu veranstalten, als auch an anderen, nationalen und internationalen Kongressen mitzuwirken, in thematischer, aber auch in organisatorischer Hinsicht. Unvergessen ist für uns sicherlich die Beteiligung am Weltkongress für Psychiatrie 2002 in Yokohama, auf dem wir eine Vielzahl internationaler Kontakte knüpften, die z.T. heute noch bestehen. Der von unserem damaligen Vorstandsmitglied Toshiaki Kobayashi vermittelte Austausch vor allem mit japanischen Kollegen, z.B. mit Bin Kimura, hat uns lange Zeit beflügelt, ja sogar dazu geführt, dass der in Japan renommierte Philosoph Saito Yoshimichi auf unserer Feier zum zehnjährigen Bestehen der Gesellschaft den Festvortrag hielt.
Viele dieser und andere Vorträge haben wir in unseren Sammelbänden veröffentlicht. Nicht immer war die Qualität der Bände gleichbleibend hoch; und ich hätte mir im Rückblick durchaus die eine oder andere Korrektur gewünscht. Aber als thematisch und inhaltlich herausragende Bände können wir hier und heute sicherlich nennen: ‚Das Maß des Leidens‘ als Dokument unseres wohl bis dato erfolgreichsten und auch ertragreichsten Kongresses, den Band ‚Sagbar-Unsagbar‘, der in seiner theoretischen Breite, aber auch durch seine Beteiligung internationaler Autoren für mich nach wie vor aus der Liste unserer Publikationen herausragt, und schließlich ‚Andersheit, Fremdheit und Exklusion‘, der die Arbeit der Gesellschaft erstmalig unter einer etwas anderen Perspektive zeigte, die wir dann mit dem Band ‚Verschwinden des Sozialen‘ erneut thematisierten: unter einer sozialpolitischen Perspektive.
Für mich persönlich und eine große Zahl unserer langjährig aktiven Mitglieder – ich möchte an dieser Stelle Christoph Kurth, Christoph Braun, Thilo Billmeier und Stefanie Rosenmüller nennen – ist der Sammelband ‚Andersheit, Fremdheit und Exklusion‘ aber auch noch aus einem anderen Grund bedeutsam geworden. Es war das letzte Arbeitsprojekt mit unserem Freund Bernd Heiter, der sich 2010 krankheitsbedingt aus dem Vorstand der GPWP zurückziehen musste. Bernd Heiter und ich hatten es über Jahre, von 2002 bis 2007, geschafft, die gemeinsame Arbeit an aktuellen Themen und Problemen in freien Seminaren und Kolloquien an der Charité fortzusetzen. Sein durch seine schwere Krankheit bedingter Rückzug hat hier eine empfindliche Lücke hinterlassen. Und es ist zumindest für mich persönlich nicht klar, ob und wie ich an das gemeinsam Begonnene wieder anknüpfen kann. Auch hier also kann philosophisches Denken zu einem Symptom werden – wenn es nämlich, aus direkter Betroffenheit durch genau diejenige Endlichkeit, die es zu bedenken doch berufen ist, seine Arbeit unterbricht.
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Als wir bei der Planung des Jubiläumskongresses darüber diskutierten, welches Thema für einen solchen Kongress angemessen sei, und als wir uns dann für das Freiheitsthema entschieden, geschah das, zumindest was meine eigene Person anbelangt, hintergründig auch deshalb, weil mir die GPWP immer selbst wie eine Verkörperung der differenziellen Einheit, d.h. der Ineinander- und Auseinandersetzung von negativer und positiver Freiheit schien: als Ort einer z.T. ungebundenen Kreativität (in der die negative Freiheit ihr Übergewicht hat), aber auch als Ort einer nicht immer unproblematischen Normativität (in der die positive Freiheit ihr Übergewicht hat).
Zum einen nämlich hat sich die GPWP eine Vielzahl der institutionellen und disziplinären Normen, die v.a. im psychiatrischen und psychologischen Kontext gelten, nie zu Eigen gemacht. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen, hat, wie man vielleicht sagen kann, „ihr eigenes Ding gemacht“. Aber auf der anderen Seite hat sie sich den geltenden Normen des psychiatrischen und wissenschaftlichen Betriebes auch nie gänzlich entzogen. Um willen ihrer eigenen Wirksamkeit hat sie sie produktiv gewendet, d.h. zum Motor ihrer Kreativität gemacht. Das möchte ich Ihnen im Folgenden noch ein wenig erläutern:
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Die GPWP, so wie sie ursprünglich konstituiert wurde, als Arbeitsprojekt junger Psychiater und Philosophen, Psychologen und Psychoanalytiker ist, ganz ohne Zweifel, ein Produkt sowohl negativer als auch positiver Freiheit: ein Produkt negativer Freiheit, weil sich die Gründungsmitglieder von Anfang an darin einig waren, den Hypostasierungen der biologischen, aber auch dem verkrusteten Positivismus der klassifikatorischen Psychiatrie entgegenzutreten; und ein Produkt positiver Freiheit, weil daraus die Verpflichtung erwuchs, Gegenkonzepte zu entwickeln und es eben aufgrund der vorausgesetzten Negativität nicht nur bei begrifflicher Moderation und kritischer Modulation zu belassen. So verwandelt sich negative Freiheit zwangsläufig zu positiver Freiheit und hat umgekehrt positive Freiheit ihre beständige Basis in der Positivität ihrer Negation.
Die Kreativität der Gesellschaft bestand nun m.E. genau in diesem Wechselverhältnis von positiver und negativer Freiheit. Und weil das so war, bestand auch für die GPWP, wie für jede Organisation, die Gefahr, sich in ihren eigenen Gegenkonzepten auf Dauer ihrerseits positivistisch einzumauern und der Kraft der Negation, z.B. in Form von Selbstkritik, keinen Raum mehr zu geben. Denn jede Kreativität droht – jedenfalls wenn sie autonome, nicht nur willkürliche Kreativität ist – durch ihre eigene Normativität eingeholt und letztlich von ihr verschluckt zu werden. Oder anders gesagt: Die positive Freiheit verstrickt sich in sich selbst, schlägt in Unfreiheit um, wenn sie hypostasiert, d.h. von ihrem dialektischen Pendant, der negativen Freiheit entkoppelt, im Stich gelassen wird.
In der konkreten Gesellschaftsarbeit war diese Gefahr z.B. immer dann gegeben, wenn Neurowissenschaftler und insbesondere so genannte „Neurophilosophen“ pauschal verdächtigt wurden, die Biologie zu hypostasieren. Dass das nicht der Fall ist und dass die Konfliktlinie heute nicht mehr die klassische Linie zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften darstellt oder gar dem mittlerweile überholten Erklärens- und Verstehensparadigma folgt, zeigen, wenn auch nicht alle, so doch eine Reihe von Beiträgen, die aus dem Kontext der GPWP in den gemeinsam mit der DGPPN herausgegebenen Sammelbänden veröffentlicht wurden, insbesondere der letzte dieser Bände zum Thema „Personalisierte Psychiatrie“. Wir müssen heute nicht mehr Anti-Biologen sein oder Substanzontologie betreiben, z.B. indem wir von einem substanzialistischen Personenbegriff ausgehen, um uns den Verkürzungen der rein biologischen und neuro-biologischen Psychiatrie zu stellen. Die alte Metaphysik hat in diesem Punkt ausgedient.
Wenn aber die Gefahr der Hypostasierung der einmal eingenommenen Position und damit die eines Schwunds der eigenen Kreativität gleichsam strukturell vorgegeben ist, welche Bedingungen müssen dann erfüllt sein, damit diese Gefahr gebannt werden kann? Ich könnte nun mit Bezug auf die GPWP sagen: Dadurch, dass sie klein, aber fein geblieben ist, ist sie auch kreativ geblieben. Tatsächlich spielt die Größe, wenn man z.B. an die DGPPN denkt, in diesem Punkt eine nicht unerhebliche Rolle. Aber da es hier möglicherweise unterschiedliche Auffassungen gibt (ich bin z.B. mittlerweile dezidiert gegen eine Zusammenarbeit mit der DGPPN), möchte ich etwas anderes betonen: Nur dann, wenn im Wissen um die soeben ansatzweise entfaltete Dialektik einzelne Mitglieder selbstkritisch bleiben: ihren eigenen Ort innerhalb des psychiatrischen und wissenschaftlichen Betriebes immer wieder in Frage stellen und Vorsicht walten lassen gegenüber den Fallstricken der Institutionalisierung, bleibt das kreative Potential der gemeinsamen Arbeit erhalten.
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Wie steht es nun aber um diese Fallstricke der Institutionalisierung, um die institutionellen Normen, die der Kreativität des Einzelnen ihre Grenzen setzen? Ganz generell lässt sich sagen: Immer da, wo eine größere Zahl von Menschen zusammenkommt und / oder eine größere Zahl von Menschen angesprochen werden soll, stellen institutionelle Normen ein wichtiges, vielleicht sogar das wichtigste Aktionspotential dar, um ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Auch die Gesellschaftsarbeit sah sich deshalb von Anfang an mit gewissen Notwendigkeiten konfrontiert, die sich nicht als Sachzwänge diskutieren ließen, sondern solche Normen darstellten, über die sie frei zu entscheiden hatte, und zwar mit dem Bewusstsein, dass sie, wenn sie sich diese Normen aneignete, ihr Handeln daran auf Dauer ausrichten würde. Zwei Beispiele solcher Entscheidungssituationen, in die die GPWP in den letzten Jahren geraten ist, möchte ich hier kurz ansprechen:
Als wir in der GPWP die Idee entwickelten, unsere um 2004/05 begonnene Zusammenarbeit mit der DGPPN durch Stiftung eines Blankenburg-Preises zu vertiefen, wurde die Namensgebung des Preises vom Vorstand der DGPPN abgelehnt. Man wollte keine der unterschiedlichen Positionen im Verhältnis von Philosophie und Psychiatrie, die daseinsanalytische, die phänomenologische, die anthropologische Position usw. bevorzugen. Ich verstehe hier diese Neutralität als Norm, die man sich – darin unterscheidet sie sich vom Sachzwang – entweder zu eigen macht oder verwirft. Wir haben sie uns, wenn auch schweren Herzens, zu eigen gemacht und beteiligen uns seitdem an der thematischen Ausrichtung und personellen Betreuung des Preises. Anders dagegen lief es, als wir 2010 während unserer Planung zum Kongress ‚Das Verschwinden des Sozialen‘ von der uns unterstützenden Heinrich Böll Stiftung dazu aufgefordert wurden, den für sie offenbar zu anstößigen, negativen Titel durch einen positiveren zu ersetzen. In diesem Fall haben wir uns geweigert, das zu tun, und den Kongress – mit Unterstützung der Böll Stiftung – trotzdem veranstaltet.
Was an diesen beiden Beispielen m.E. deutlich wird, ist: Wo jeweils die Grenze zwischen dem Geltendmachen negativer und positiver Freiheit verläuft und inwieweit eine der beiden Freiheiten die Kreativität entweder befördert oder hemmt, ist im Einzelfall schwer zu entscheiden und theoretisch kaum zu antizipieren. Ich persönlich glaube sogar, dass wir hier an eine Grenze der Theoretisierbarkeit geraten. Zwar lässt sich mit einer gewissen Plausibilität argumentieren, es sei immer gut, zwischen den Polen eines im Kern dialektischen Verhältnisses so etwas wie eine Vermittlung herzustellen. Aber die beiden Beispiele, die ich angeführt habe, zeigen gerade, dass es im Einzelfall, in einer konkreten Situation oft nicht möglich ist, eine Vermittlung herzustellen. Wenn man also mit Bezug auf die Geschichte der GPWP von einem Gleichgewicht zwischen positiver und negativer Freiheit, zwischen Normativität und Kreativität sprechen wollte, so wäre dies m.E. nur on the long run möglich: als ein dauerndes Changieren zwischen den Polen.
Gleichzeitig bin ich aber der Auffassung, dass die negative im Zweifelsfall Vorrang vor der positiven Freiheit haben sollte, was, wenn ich das sage, selbst ein Akt negativer Freiheit sein dürfte. Und zwar bin ich deshalb dieser Auffassung, weil es zwischen der negativen und der positiven Freiheit kein reziprokes, sondern nur eine asymmetrisches Verhältnis gibt, das ich als implementär bezeichnen würde: Die negative ist nämlich die Bedingung für die positive Freiheit, aber die positive nicht die Bedingung für die negative. Freiheit wäre korrumpiert, wenn nicht ein Widerspruch in sich, wenn es sie nur als positive gäbe. Anders gesagt, die negative Freiheit ist stets das Implement der positiven, aber diese nicht das Implement der negativen. Denn immer gibt es die Möglichkeit, nein zu sagen; eine Verpflichtung zur Positivität gibt es nicht, weil ja gerade das die Freiheit vernichten würde. Das heißt aber wiederum: Nur die negative Freiheit ist in der Lage, Raum für die positive zu schaffen, während diese stets in der Gefahr steht, in Unfreiheit umzuschlagen. Dass umgekehrt die negative Freiheit gefährdet ist, im Unbestimmten zu verharren, scheint mir dagegen ein Vorurteil derjenigen Philosophen zu sein, die aus Angst vor der Radikalität der menschlichen Freiheit diese im Positiven, im Gegebenen einschließen wollen. Die GPWP scheint mir der existierende Beweis dafür zu sein, dass eine solche präventive intentionale Einschließung nicht notwendig ist.
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Ich möchte meine Ausführungen kurz zusammenfassen: Erstens, die GPWP ist klein, aber auch fein; sie hat eine, bereits in ihrem Titel deutlich artikulierte Nische besetzt gehalten, in der sie zugleich eine gewisse Exklusivität entfalten konnte. Zweitens, die GPWP hat sich auf mehreren Arbeitsfeldern: dem der Organisation von Diskussionen, Tagungen und Publikationen, kontinuierlich weiterentwickelt und dabei z.T. recht eigenständige Positionen bezogen, historisch z.B. in ihrer Anknüpfung an das von Wolfgang Blankenburg mit konzipierte Verständnis des Verhältnisses von Philosophie und Psychiatrie oder systematisch durch ihre Überzeugung, der Philosophie im interdisziplinären Diskurs auch konstitutive Bedeutung zuzuerkennen. Und drittens, die GPWP versucht seit 20 Jahren ein Gleichgewicht zwischen positiver und negativer Freiheit, zwischen Normativität und Kreativität herzustellen, das zwar notwendigerweise labil bleiben musste, sich aber on the long run als stabil erwiesen hat.
Dass der GPWP diese Exklusivität, Kontinuität und Stabilität gelungen ist, hängt weniger von glücklichen Umständen ab (die man natürlich auch konzedieren muss), als vielmehr von der Intensität, mit der sich über viele Jahre Einzelne, deren Namen ich z.T. genannt habe, am Konstituierungs- und Arbeitsprozess der Gesellschaft beteiligt haben. Das Erfolgsrezept der GPWP, wenn man denn überhaupt von einem solchen sprechen will, hängt also nicht so sehr an der normativen Organisationsstruktur des Vereins, sondern vor allem am individuellen Engagement seiner jeweiligen aktiven Mitglieder. Keine intellektuelle oder wissenschaftliche Meinungsverschiedenheit, kein Geldmangel und auch keine veraltete Website haben die GPWP in ihrer Existenz jemals ernsthaft bedrohen können. Wenn es zu einer solchen Bedrohung kommen sollte, dann nur in einer Situation, in der die Kraft der wenigen Einzelnen, die diese Gesellschaft tragen, einmal versiegt.
Theoretisch gewendet heißt das: Das Verhältnis von positiver und negativer Freiheit, von Normativität und Kreativität muss mit Blick auf die Frage der gemeinschaftlichen und bzw. oder gesellschaftlichen Organisierung und Institutionalisierung auch auf das Verhältnis von Kollektivität und Individualität durchsichtig gemacht werden können. Und in diesem Kontext würde ich sagen: Die Möglichkeit von Kreativität schwindet, je mehr der Institutionalisierungsgrad einer Organisation und der Institutionalisierungsdruck, dem sie nachgibt, über einen gewissen Schwellenwert hinaus ansteigt. Negative Freiheit löst sich also jenseits dieses Schwellenwertes immer schneller in positive Freiheit auf, um schließlich so von ihr entkoppelt zu sein, dass vielleicht nicht ihre Produktivität, aber doch ihre Kreativität zum Erliegen kommt. Anders gesagt: Wenn eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied, so sind die Freiheitsräume einer Organisation nur so stark, wie sie sie ihren einzelnen Mitgliedern zugesteht.
Das sage ich – und ich komme hiermit zum Ende – durchaus auch vor dem Hintergrund meiner persönlichen intellektuellen Entwicklung. Ich, der ich immer einen Horror davor gehabt habe, mich mit meiner Arbeit den großen Institutionen unserer Gesellschaft, dem Staat, einem Konzern oder eben einer Universität anzuvertrauen und der in der Tat glaubt, dass philosophisches Denken und institutionelle Normierung einen kaum vermittelbaren Widerspruch darstellen, ich habe in der kleinen, aber feinen GPWP durchaus eine gewisse Heimat gefunden. Ich habe in ihr ein Stückweit meiner Utopie von Heimat finden können, weil sie es mir ermöglichte, mit anderen gemeinsame Sache und dennoch mein eigenes Ding zu machen. Das heißt, dass sie in der Lage war, mir als Implement meiner positiven Freiheit – meines Bekenntnisses zur gemeinsamen kollektiven Anstrengung – zugleich ein Höchstmaß an negativer Freiheit zu garantieren. Dafür danke ich denjenigen, mit denen ich all die 20 Jahre zusammenarbeiten konnte und ohne die die GPWP zweifelsohne nicht existieren würde.