Musivische Texte – Splitter #9

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Schlaf der Gerechten I – „Ich frage mich, warum es einer unsere Zivilisation und unseren gesamten Planeten im glo­ba­len Maßstab gefährdenden Katastrophe bedarf, um uns auf­zu­we­cken?“ (Marina Abramo­vić) Ich frage mich: Sind wir denn schon aufgewacht? Was nützt alles Aufwecken, wenn kei­ner wach wird.

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Zorn und Wut allein? – Im Namen von Widerstand agieren heute Viele, aber die Wenigen leisten ihn. Die Vielen bleiben im Widerwillen stecken. Der Platz scheint schon besetzt, aber er ist leer.

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Automaton – Als Descartes das Maschinenhafte der Natur, ja des Kosmos entdeckte, ver­stand er dies als ein Werk, als das Werk göttlicher Schöpfung. Er, der fromme Katholik, hätte begreifen kön­nen, dass es das Sehnsuchtswerk eines in die Natur, den Kosmos ge­stell­ten „sündigen“ Wesens, also ein kapitaler, wenn nicht kapitalistischer Irrtum ist.

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Einsicht aus umgekehrter Richtung I – Falsch singen ist richtig. Allerdings, man weiß es erst hinterher. Das ist das Risiko des Widerstands.

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Riskantes Manöver – Gerd Irrlitz schreibt in seinem bedenkenswerten ‚Versuch über Descartes‘: „Es lohnte wohl ein­mal, die Utopie zu durchdenken, daß eines Morgens die mo­ra­lisch verwerflichen Men­schen aus der Wissenschaft ausgeschlossen würden. Das wä­re zu mancher Zeit eine starke Be­wegung gewesen.“ Worüber Irrlitz hier irrlichtert, ist für viele autoritärer, wenn nicht totalitärer Irr­sinn. Aber Irrsinn ist nicht Unsinn und Au­to­ri­tät kein Gegenargument. In diesem Fall ist der Irrsinn sogar die Wahrheit und die Au­to­ri­tät der einzige Weg, ihr Geltung zu verschaffen.

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A. l. v. b. – Für ein philosophisches Leben ist das biologische zu kurz, für ein biologisches das philo­sophische zu lang. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Kultur die Kreatur überlebe. Die Kultur geht am Ende in oder mit der Kreatur zugrunde – zu ihrem Grund: zur Natur.

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Der somatische Anteil – Geben wir unserem Körper Befehle, führt er sie aus. Geben wir un­se­rem Willen Befehle, erfährt er körperlichen Widerstand. Freiheit wäre nicht, schreibt Adorno, wäre die motorische Reaktionsform ganz liquidiert, zuckte nicht mehr die Hand.

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Es reimt sich (auf Tod) I – Die Würde des Menschen erwächst aus seinem Stolz im Wi­der­stand gegen den Tod. Wer keinen Widerstand leistet, ist ein Idiot.

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Fortschritt – Die Menschheit hat, je weiter sie durch die Jahrhunderte schritt, sich dem Wahn­sinn ergeben. Sie hat sich, um ih­rer Unvernunft willen, auf die Vernunft berufen. Die Folgen ereilen uns heute: Die Unvernunft kann nur um der Vernunft willen aufgerufen wer­den, nicht umgekehrt.

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Schlaf der Gerechten II – Wollen wir einander aufwecken, muss – am Anfang der Pro­ze­dur – minde­stens eine/r wach sein.

Über Christian Kupke

Philosoph, Autor + Dozent
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